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Freudlose Suche nach Glück im Kollektiv
Zwei Choreographen, zwei Tanzensembles, ein tolles Thema: Glück. Doch das Streben nach dem Glück wird im Tanzstück von Felix Landerer und Giuseppe Spota bei Bühnen Bern und Tanz Bielefeld zur angestrengten kollektiven Suche nach etwas, das nur individuell erfahrbar ist.

Fortuna. Nach der Glücksgöttin im alten Rom bedeutet das Wort Glück, Erfolg, aber auch Zufall oder Schicksal. Im Glücksrad ist man manchmal unten, manchmal oben. Die Unabhängigkeitserklärung (von England) der 13 amerikanischen Staaten von 1776 beginnt mit der Aufzählung dreier unbestreitbarer Wahrheiten: Dass alle Menschen gleich geboren seien, unveräusserliche Rechte hätten und zu diesen «the pursuit of happyness» gehören. Das Streben nach Glück als Menschenrecht. Nicht Glück ist ein Menschenrecht, wohl aber das Streben danach. Doch ein geflügeltes Wort warnt: «Be nice to people on your way up, you might meet them again on your way down». Glück ist ein Moment, ein Hauch, oft erst im Nachhinein erkennbar. Und Glück ist nie sicher, das Unglück immer nur eine Raddrehung entfernt.
So eingestimmt, sass ich in der ausverkauften grossen Vidmar-Halle bei der Première des Tanzstücks «Fortuna» von Felix Landerer und Giuseppe Spota, einer gemeinsamen Produktion von Tanz Bielefeld und dem Ballet von Bühnen Bern.
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Was habe ich gesehen und gehört? Ich sah ein minimalistisches Bühnenbild (Till Kuhnert) fast ganz weiss mit einem breiten Streifen Grün auf Höhe der Köpfe der Tanzenden, deren Wippen und Zucken darin Schatten warf; über der Bühne markierte ein grosser Kreis aus Metall das Glücksrad. Eine Turnhalle, ein Labor, ein Klinikum, ein Kühlraum?
Ich sah den geballten Auftritt der vereinten zwanzig Tänzerinnen und Tänzer der beiden Ensembles in einer Art dunkelroter Trainingsanzüge und weissen Schuhen (Irina Shaposhnikova) zu dumpfem, rascher werdendem Beat. Lockeres Schreiten, Stampfen, Kreisen. Die kompakte Gruppe zerfällt, einzelnen Tanzende bewegen sich individuell, doch stets präzis, diszipliniert. Höhepunkte: Ein Handstand im fallenden Reif, ein Sprung durch den Ring. Unmerklich wird aus dem ausfransenden Kollektiv eine Vielzahl von Individuen, die sich intensiver und mit gesteigertem Tempo anstrengen, messen, konkurrieren. Aus dem Off tönen unverständliche Reporter*innenstimmen wie im Stadion.
Ich höre die Musik von Christof Littmann. Es sind Beats, es ist ein Knirschen und Rumpeln, ein ächzendes Drehen und Ziehen, mal rascher, mal langsamer. Die Musik soll das Drehen des schweren, unsichtbaren Glücksrads aus Holz und Metall hörbar machen. Eher monoton, vereinzelt Melodienfetzen. Doch eine schöne Idee.
Kein kleines Glück im Grossen
Die sichtbaren Glücksräder, eine Art Hula-Hoop-Reifen, die jede Tänzerin und jeder Tänzer auf unterschiedliche Art bewegt, symbolisieren kaum mehr als das kleine Glück. Selbst wenn alle Tanzenden einer einzigen Person ihre Reifen sorgfältig umhängen, entsteht nichts Kraftvolles.
Ich sehe ausser einmal – ausgerechnet beim stampfenden Gleichschritt – kein Lächeln. Nichts ist locker, nichts entspannt, alles ist freudlos. Die Jagd nach dem Glück erscheint anstrengend, quälend, gebunden im Kollektiv. Die Stadionstimmen befehlen «One, two, three, four». Der olympische Wettbewerb des Höher, Stärker, Schneller dominiert. Zum Kampf um Medaillen gehören Schmerzen, Verrenkungen, Marschmusik, Gleichschritt, Schweiss. Wo im Pas de deux Nähe erwartet wird, jagen Frau und Mann einander in verzweifelten Verrenkungen nach, zärtlich einzig im Ausziehen der Turnschuhe.
Ist das alles? Sind die Tanzenden wiederum einzelne Menschen, die verschämt oder verzückt nach dem Glück haschen, nachdem sie ihre Reifen zurückgeholt haben? Nein. Sie bilden nun mit den erhobenen Reifen eine Menschenpyramide, wie ehedem Turner*innen am 1. August-Feuer – eine Olympiakulisse, doch nicht mit den erwarteten fünf Ringen, sondern mit einem Ring für jede Tänzerin und jeden Tänzer. Ein lebendes Bild im Sinne von Olympia: «Mitmachen ist wichtiger als siegen». Bald fallen die Ringe zu Boden, die Tanzenden verschwinden hinter der Bühne. Stille. Dunkel.
Jetzt könnte das Spiel neu beginnen. Lächelnd, suchend, menschlich. Doch jetzt ist es zu Ende.
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Am Tag danach taucht nochmals die Erinnerung an die sehr eindrückliche körperliche Leistung der Tänzerinnen und Tänzer auf. So viele anspruchsvolle, verdrehte, überraschende Bewegungen. Leider hätte ich sie in ihrer Vielzahl auf der Bühne alle auf einmal sehen müssen. Das war mir leider unmöglich.
Dazu kommen Fragen: Weshalb bilden das Plakat und der Umschlag des Programmhefts eine Szene mit drei Tanzenden ab, die so weit entfernt von der Atmosphäre der Aufführung ist? Stimmt mein Eindruck, dass «Fortuna» ein Spiegel der kollektiven vergeblichen Suche, ja Jagd nach dem Glück ist? Und wie ist es mit der 1776 verbrieften Wahrheit, dass das Streben nach Glück dem Menschen eigen sei? Dem einzelnen Menschen, jedem nach seiner Art. Im ermüdenden Stampfen des Kollektivs gibt es das Individuum nicht – und folglich auch kein Glück, nicht einen Moment lang.
Ein bisschen schade um den grossen Aufwand, um uns das enge Verständnis von Glück vorzutanzen.
Weitere Aufführungen: www.buehnenbern.ch