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Was ein kantonales Bettelverbot bedeuten kann

In der kommenden Frühlingssession stimmt der Grosse Rat über die Einführung eines generellen Bettelverbots ab. Der Regierungsrat empfiehlt eine Annahme. Das Verbot würde ­notleidende Menschen aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden lassen, befürchtet eine grosse Hilfsorganisation.

| Michael Schallschmidt | Politik
Nach der Abschaffung vor über 30 Jahren stimmt der Grosse Rat wieder über ein Bettelverbot ab. Foto: Unsplash
Nach der Abschaffung vor über 30 Jahren stimmt der Grosse Rat wieder über ein Bettelverbot ab. Foto: Unsplash

Wer regelmässig am Bahnhof Bern vorbeikommt, kennt die Frage nach Kleingeld in Verbindung mit einer hohlen Hand oder hingehaltenen Becher sehr gut. Bettelnde Menschen gehören auf vielen Plätzen im Kanton zum Alltag. Die Frage nach dem Umgang mit ihnen beschäftigt auch die kantonale Politik: In der Frühlingssession, die am 4. März beginnt, stimmt der Grosse Rat über ein generelles Bettelverbot ab. 

Das Verbot geht auf eine Motion der Bieler SVP-Grossrätin Sandra Schneider und zwei weiterer SVP-Grossräte vom Juni 2023 zurück. Seit der Aufhebung des kantonalen Bettelverbots im Jahr 1991 sei unklar, wann und wo betteln untersagt sei, begründen die Motionäre. Das geforderte generelle Bettelverbot solle Rechtssicherheit schaffen und den Behörden rasche, konkrete Sanktionierungen ermöglichen. Gerade in der Stadt Bern seien oftmals «organisierte Bettler-Banden aus dem Ausland» unterwegs. 

Zwei Richtungswechsel in Basel

Die Motionäre begründen ihren Vorstoss weiter mit einem Entscheid des Bundesgerichts, der ein 2021 im Kanton Basel-Stadt wiedereingeführtes Bettelverbot teilweise gutheisst. Das basel-städtische Gesetz verbietet mitunter organisiertes, aufdringliches und aggressives Betteln. Es schreibt zudem einen Mindestabstand von fünf Metern zu bestimmten Orten wie ÖV-Haltestellen, Geldautomaten oder Restauranteingängen vor. 

Bis 2020 kannte Basel-Stadt noch ein generelles Bettelverbot, laut dem sich strafbar machte, «wer bettelt oder andere zum Betteln schickt». Im Zuge der Revision des Übertretungsstrafgesetzes hob der Stadtkanton dieses Verbot auf. Rund ein Jahr später führte Basel-Stadt aufgrund eines markanten Anstiegs durchreisender Bettelnder aus dem Ausland wieder ein Bettelverbot ein – wobei es sich im Vergleich zum vorherigen Gesetz um ein genauer definiertes, partielles Verbot handelt.

Wegweisung oft bereits möglich

Der Berner Regierungsrat geht in seiner Antwort auf Schneiders Motion auf bestehende gesetzliche Grundlagen ein. Diese erlauben die Wegweisung von ausländischen oder aggressiven Bettelnden bereits. Dennoch beantragt er, die Motion anzunehmen. «Auch wenn kantonsweit betrachtet kein gleichmässiger Handlungsdruck besteht, bleibt die Situation dynamisch und insgesamt wenig berechenbar», heisst es in der Antwort des Regierungsrates vom Dezember 2023.

Die bestehenden Normen würden zudem Rechtsunsicherheiten mit sich bringen, da sowohl Tatbestandsvoraussetzungen als auch die Rechtsfolgen uneinheitlich seien, stimmt der Regierungsrat dem Motionstext zu. Eine angemessene gesetzliche Regelung – beispielsweise nach basel-städtischem Vorbild – könne zu einer gezielten Vorgehensweise beitragen.

Die Organisation Pinto, die im Auftrag der Stadt Bern Sozialarbeit auf der Strasse leistet, berichtete gegenüber Medien letztes Jahr von einer erhöhten Anzahl Bettelnder Anfang 2023: Die Anzahl Personen lag demnach bei 45. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz kam im Jahr 2022 zum Ergebnis, dass in der Stadt Bern auf 100 000 Einwohner 58 Personen ohne Obdach kommen. Damit rangiert die Stadt auf Platz drei der grössten acht Schweizer Städte.  

Aus den Augen, aus dem Sinn

Ein generelles Bettelverbot würde aber die falschen Personen treffen, sagt Ursula Käufeler, Leiterin der kirchlichen Passantenhilfe und Sozialberatung Bern: «Falls Menschen in einem akuten Engpass sind, dürften sie nicht selbst aktiv werden und jemanden im öffentlichen Raum um Hilfe bitten.» 

Darüber hinaus habe ein generelles Bettelverbot Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Gesellschaft. Die Not, die es auch in der Schweiz gebe, würde wohl aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden. Die Menschen könnten vermuten oder interpretieren, dass es keine hilfsbedürftigen Menschen mehr gebe und es keine öffentlichen Gelder benötige, um sie zu unterstützen. Während der Coronapandemie sei das Betteln beispielsweise nicht mehr öffentlich sichtbar gewesen, hält Käufeler fest. Nach der Pandemie wurde die Thematik wieder aktuell: «Plötzlich sassen wieder Personen am Strassenrand.»

Sehen, sich auseinandersetzen und selber entscheiden

Die kirchliche Passantenhilfe ist ein Angebot der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen Region Bern (AKiB) und gehört der Heilsarmee an. Die Hilfsorganisation bietet notleidenden und hilfesuchenden Menschen eine Anlaufstelle für Gespräche oder lebensnotwendige Güter.

Auf den Strassen unterwegs seien die Mitarbeitenden jedoch nicht. Eine Einschätzung darüber, wie die Situation um das Betteln in Bern momentan aussieht, könne Käufeler daher nicht machen. Ab und zu habe die Passantenhilfe Personen aus dem Ausland, die in Gruppen unterwegs seien und gezielt nach Geld fragen würden: «Diesen Menschen können wir mit Essensabgaben helfen, meist kehren sie nach einem Erstaufenthalt nicht mehr zu uns zurück.»

Wer als Privatperson mit bettelnden Menschen in Berührung komme, setze sich auch mit sozialen Themen auseinander, was an und für sich zu begrüssen sei, ergänzt die Medienstelle der Heilsarmee. Zudem könne jede Person selbst entscheiden, ob sie Bettelnden etwas geben möchte oder nicht: «Wir sind der Meinung, dass dafür grundsätzlich kein Verbot nötig ist.»

Ob das Verbot kommt, entscheidet der Grosse Rat. Aufgrund der Empfehlung des Regierungsrates hält die SVP eine Annahme für wahrscheinlich «und auch wünschenswert», wie die Partei auf Anfrage erklärt. Die SP-­JUSO-Fraktion, welche nach der SVP die zweitgrösste Fraktion im Kantonsparlament bildet, sei wiederum klar dagegen, so SP-Co-Präsidentin Anna Tanner. Mit 18 Stimmen könnte die FDP-Fraktion ausschlaggebend für das Ergebnis sein. Diese nimmt auf Anfrage jedoch vor der Fraktionssitzung keine Stellung. Auch die zwölf Stimmen starke Mitte-Fraktion befasst sich erst am 4. März eingehend mit der Motion, wie Fraktionspräsident Peter Gerber erklärt. Behandelt wird das Bettelverbot im Grossen Rat voraussichtlich am kommenden Mittwoch.


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