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Philippe Müller: «Es gibt viele Vorurteile über Haft»
Der bernische Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) erklärt, wieso das Regime in der Untersuchungshaft gelockert werden soll. Und wieso Container, um zusätzliche Haftplätze zu schaffen, alternativlos sind.
Der Kanton Bern beteiligt sich an einem Pilotprojekt, um die Untersuchungshaft zu reformieren. Um was geht es genau?
In der Untersuchungshaft herrscht ein relativ strenges Regime. Kontakte nach aussen können weitgehend unterbunden werden und die Leute wissen manchmal nicht, wie lange sie in Untersuchungshaft bleiben müssen. Ein solches Regime ist auch nötig, schliesslich besteht oftmals Wiederholungs-, Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr – sonst wäre die Person nicht in Untersuchungshaft. Auf der anderen Seite gilt für die Insassen die Unschuldsvermutung. Zudem kann Untersuchungshaft auch zu sogenannten Haftschäden führen. Mit dem Modellversuch versuchen wir, Haftschäden zu minimieren, aber so, dass die Durchführung der Verfahren trotzdem nicht gefährdet ist.
Was ist unter Haftschäden zu verstehen?
Unter diesem Begriff wird Verschiedenes zusammengefasst. Es kann sein, dass jemand die Arbeitsstelle oder die Wohnung verliert; soziale Beziehungen können leiden, aber es kann auch zu psychischen Problemen wie Depressionen führen. Im Rahmen des Modellversuchs versuchen wir dem zu begegnen, indem neu etwa bei Haftantritt ein Standortgespräch durchgeführt wird. Falls nötig, können anschliessend Sofortmassnahmen durchgeführt werden. Zum Beispiel, indem Arbeitgeber oder Familienangehörige kontaktiert und unterstützend involviert werden.
Die Bedingungen in der Untersuchungshaft wurden bereits vor ein paar Jahren gelockert. Seither dürfen Häftlinge bis zu acht Stunden in Gemeinschaftsräumen verbringen. Vorher war es nur eine Stunde. Sind wir im Zeitalter der Kuscheljustiz angekommen?
Die Bedingungen sind je nach Fall unterschiedlich. Wenn Verdunkelungsgefahr besteht, kann der Kontakt zu anderen Mithäftlingen nach wie vor ganz untersagt werden. Man darf sich aber keine falschen Vorstellungen machen: Auch wenn es punktuell Erleichterungen gibt, der Hauptaspekt der Haft, das Eingesperrtsein, ändert sich nicht – und das ist auch das, was den Leuten am meisten Mühe bereitet. Von Kuscheljustiz kann weder jetzt noch in Zukunft die Rede sein.
Was war der Auslöser für das Pilotprojekt?
Einen konkreten Auslöser gab es nicht. Natürlich gibt es Organisationen, die immer mal wieder Kritik am Regime in der U-Haft äusserten. Aber es ist eher Ausdruck eines Mentalitätswandels. Früher hat man die Leute einfach weggesperrt und mit Nahrung versorgt. Heute achtet man von Anfang an darauf, die Leute nach Haftentlassung wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Sie traten bisher eher als Law-and-order-Politiker in Erscheinung. Es überrascht, dass Sie das Pilotprojekt unterstützen.
Ihre Aussage zeugt eher von einem wenig differenzierten Weltbild. Das eine schliesst das andere nicht aus. Ich bin für die konsequente Durchsetzung der Gesetze. Es spricht aber nichts dagegen, Haftschäden zu minimieren, wenn damit die Sicherheit und die Durchführung von korrekten Verfahren bei der Strafverfolgung und vor Gericht nicht gefährdet werden.
Hat sich Ihre Perspektive auf den Justizvollzug verändert, seit Sie der Sicherheitsdirektion vorstehen?
Der Blick ändert sich immer ein wenig, wenn man über mehr Kenntnis der Materie verfügt. Ich glaube, es herrschen viele Vorurteile und überkommene Klischees vor in den Vorstellungen über die Haft. Die einen haben das Bild des Gefängniswärters vor dem Auge, der das Essen durch die Türklappe hindurchschiebt – und wenn jemand aufmuckt, dann «bollets». Andere glauben, es herrschten in Schweizer Gefängnissen luxuriöse Verhältnisse. Beides trifft nicht zu.
Das Pilotprojekt beschränkt sich auf die U-Haft. Gibt es auch Bestrebungen, die regulären Haftstrafen so anzupassen, dass Haftschäden vermindert und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft verbessert werden können?
Ich sehe derzeit keinen Bedarf. Im regulären Vollzug hat man bereits zahlreiche Mechanismen, um Haftschäden zu verhindern. Ich war etwas überrascht, wie stark reguliert und dadurch kostspielig der Vollzug ist.
Ein Problem ist, dass die bernischen Gefängnisse chronisch überfüllt sind – Tendenz zunehmend. Wieso ist das so?
Das ist nicht chronisch, es sind Schwankungen. Und es ist auch nicht ein bernisches Phänomen, das ist in der gesamten Schweiz der Fall. Mit ein Grund ist natürlich das Bevölkerungswachstum. Je mehr Leute, desto mehr Möglichkeiten und somit umso höher die Wahrscheinlichkeit von Straftaten. Zudem gab es jüngst auch eine gesteigerte Kriminalität. Schliesslich sind Staatsanwaltschaft und Gerichte massiv überlastet, was unter anderem dazu führt, dass der «Abfluss» aus den Vollzugseinrichtungen weniger rasch stattfindet.
Unter anderem sind die Gefängnisse auch überfüllt, weil Leute kleine Bussen absitzen. Wäre es nicht schlauer, diese Leute würden gemeinnützige Arbeit leisten?
Ersatzhaftstrafen können laut Strafgesetzbuch nicht in gemeinnützige Arbeit umgewandelt werden. Das wäre auch nicht so einfach, weil die Leute dafür kooperativ sein müssten. Ähnlich verhält es sich mit Electronic Monitoring (Fussfesseln). Das ist zwar grundsätzlich möglich, erfordert aber etwa die Existenz eines Arbeitsvertrags und ebenfalls Kooperations- und Absprachebereitschaft. Das ist oft nicht gegeben.
Wegen IT-Problemen bei den Kantonsbehörden drohen zahlreiche solcher Kurzstrafen zu verjähren. Sie setzen nun auf sehr teure Container, um kurzfristig zusätzliche Haftplätze zu schaffen. Da haben die Behörden dem Steuerzahler ziemliche Kosten eingebrockt, die Rede ist von 5,6 Millionen Franken in drei Jahren.
Die Container sollen nun definitiv angeschafft und könnten auch zukünftig dafür genutzt werden, um Schwankungen auszugleichen. Ohne die Verzögerung beim Busseninkasso wären die Container aber nicht nötig. Ausserdem ist die kurzfristige Massnahme alternativlos. Reguläre Gefängnisplätze sind viel teurer. Wenn wir den Leuten einfach die Bussen erlassen hätten, würde niemand mehr eine Busse bezahlen.
Nur weil man nicht jede Strafe vollziehen kann, entsteht doch kein Präjudiz.
Doch. Wenn man bewusst und willentlich Strafen verjähren lässt, können künftig Personen Gleichbehandlung einfordern, wenn sie eine Busse nicht bezahlen wollen. Ich sehe das Problem vor allem in der Verzögerung zusammen mit der kurzen Verjährungsfrist von drei Jahren. Die Verurteilten melden sich auch nicht freiwillig zum Haftantritt, sondern werden vielleicht erst entdeckt, wenn sie nach 10 Monaten in eine Polizeikontrolle geraten. Zusammen mit der Verzögerung beim Busseninkasso, wo die Verjährungsfrist schon läuft, führt das dazu, dass die drei Jahre Verjährungsfrist wirklich sehr knapp bemessen sind.