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«Diese Reform ist ein absoluter Game Changer!»
Die Berner Gemeinderatskandidatin und Nationalrätin Melanie Mettler (GLP) spricht über Gleichstellung, Fairness und Kompromisse in der beruflichen Vorsorge.
Eine Umfrage zeigte Anfang Juli dass die Bevölkerung den Eindruck hat, die BVG-Reform diene nur Gutverdienenden. Melanie Mettler, Sie befürworten die Reform. Was ist da schiefgelaufen?
Ich gehe davon aus, dass die Meinungsbildung in der Bevölkerung noch nicht abgeschlossen ist. Von der Reform profitieren alle Generationen, besonders auch tiefe Einkommen.
Die SP und die Gewerkschaften sehen das anders. Sie sprechen von einem «Bschiss» und befürchten, dass die Reform den Pensionskassen mehr Spielraum gebe, um die Renten zu kürzen.
Wenn es einen «Bschiss» gab, dann ist es die Umverteilung, die seit der Finanzkrise von den Sparvermögen der Erwerbstätigen zu den Renten der Pensionierten stattfand. Die Oberaufsicht schätzt den Umfang dieser Umverteilung auf etwa 90 Milliarden Franken.
Wie löst diese Reform dieses Problem?
Mit dem realistischeren Umwandlungssatz (siehe Infobox) sinkt der Druck auf die Pensionskassen, solche Querfinanzierungen vorzunehmen. Damit wird die Stabilität der zweiten Säule für die kommenden Generationen massiv erhöht. Zusätzlich werden deutlich mehr Menschen versichert, die bisher nicht Zugang zur zweiten Säule hatten.
Die BVG-Reform
Die Revision des BVG soll die berufliche Vorsorge auf Vordermann bringen; dies, nachdem von den Pensionskassen in den letzten Jahren deutlich mehr Geld von Erwerbstätigen zur Rentnergeneration umverteilt wurde. Kern der Revision ist die Senkung des Umwandlungssatzes. Mit ihm berechnet man die jährliche Rente in der obligatorischen beruflichen Vorsorge. Er soll von 6,8 auf 6 Prozent gesenkt werden. Damit wird jährlich ein kleinerer Teil des Angesparten ausgezahlt. Die Reform sieht gleichzeitig vor, dass mehr angespart wird, indem die Eintrittsschwelle leicht gesenkt und der Koordinationsabzug flexibilisiert wird, um Teilzeitarbeit besser zu versichern. Zudem gibt es für eine Übergangsgeneration von 15 Jahrgängen Rentenzuschläge. (arb)
Durch den tieferen Umwandlungssatz wird davon jährlich jeweils ein kleinerer Teil ausgezahlt. Wie stellt man sicher, dass die Renten damit prozentual nicht weiter sinken?
Die Refom sichert Renten – heute und auch in Zukunft. Rund 85 Prozent der Versicherten sind von der Senkung des gesetzlichen Umwandlungssatzes gar nicht betroffen. Sie haben schon heute einen tieferen Umwandlungssatz. Die Reform verbessert dagegen insbesondere die Renten für kleine und mittlere Einkommen. Sie stabilisiert das Dreisäulensystem zugunsten einer guten Vorsorge für kommende Generationen, verbessert die Chancen der älteren Erwerbstätigen auf dem Arbeitsmarkt und sieht einen fairen Rentenzuschlag für die Übergangsgeneration vor. Bestehende Renten werden nicht angetastet.
Der Widerstand dagegen kam nicht nur von links. Gastrosuisse ist gegen die Reform, weil die Lohnabzüge seitens Arbeitgeber zu stark erhöht würden; der Bauernverband hat von einer überladenen Vorlage gesprochen; PwC warnt vor zusätzlicher Bürokratie. Es scheint, als stelle die Reform niemanden wirklich zufrieden.
Da muss ich widersprechen. Die Allianz ist sogar bemerkenswert breit: Der Bundesrat und fast alle Parteien vertreten diesen Kompromiss. Hotelleriesuisse ist Teil der Allianz für ein Ja zur Reform, genauso wie der anfänglich skeptische Gewerbeverband, der Detailhandel und der Seniorenverband. Der Bauernverband hat nach der Debatte die Stimmfreigabe beschlossen, der Bäuerinnenverband äussert sich aktiv für die Reform, ebenso wie Alliance f, der nationale Dachverband von 150 Frauenorganisationen. Es stimmt, dass PwC sich stört an den Kompensationszuschüssen für diejenigen, die bald pensioniert werden. Aber der Schweizerische Pensionskassenverband steht aktiv hinter dem verhandelten Kompromiss, damit die zweite Säule wieder reformfähig wird.
Und doch scheint sie nicht so recht anzukommen. Im Abstimmungskampf scheinen sich die Experten uneinig zu sein. Auch der Bund ist mit seinen Prognosen vorsichtig. Ist die Vorlage zu überladen, zu komplex – will sie zu viel?
Dieser Kompromiss wurde vom National- und Ständerat erfolgreich verhandelt und ist für die Stabilität des Dreisäulensystems wegweisend. Die Gewerkschaften und SP haben dagegen ein Referendum ergriffen. Und es gibt wie immer Argumente dafür und Argumente dagegen.
… aber?
Jede Arbeit verdient eine faire Rente. Die Fakten dazu sprechen für sich. Die Renten von Pensionierten werden nicht angetastet. Die Reform stärkt aber die Finanzierung der zweiten Säule, hält das Leistungsniveau insgesamt und verbessert die Absicherung von Personen mit tiefen Einkommen sowie Teilzeitbeschäftigten. Mehr als eine Viertelmillion Frauen werden besser versichert, 100 000 Einkommen dürfen erstmals in die zweite Säule einsteigen.
Der Mehrwert der Reform für die Frauen ist umstritten. Schon bei der AHV-Reform standen Frauenfragen weit vorne. Warum müssen sie immer als Argument herhalten?
Weil gerade bezüglich der finanziellen Unabhängigkeit der Frauen die Gesetze am meisten hinter den gesellschaftlichen Entwicklungen zurückfallen. Das Dreisäulensystem wurde vor bald einem halben Jahrhundert für ein Lebensmodell geschrieben, in dem Frauen in der Regel nicht erwerbstätig sind. Die zweite Säule funktioniert sehr gut für Vollzeitbeschäftigte, die keine Erwerbsunterbrüche haben. Es gibt Renten für Invalidität, für Kinder, für Ehepartner. Wenn wir das nun auch für Teilzeitarbeit ermöglichen, ist die Reform insbesondere für erwerbstätige Eltern ein absoluter Game Changer.
Die Rechnung geht nicht immer auf. Gemäss Gewerkschaften würde eine 50-jährige Coiffeuse mit der Reform ab jetzt jährlich 200 Franken mehr einzahlen. Dafür würde sie allerdings nur 100 Franken mehr Rente pro Jahr erhalten …
Ich bestreite nicht, dass es solche Einzelfälle theoretisch geben kann. Aber das müsste man aber für ein ganzes Berufsleben individuell ausrechnen. Umso wichtiger sind repräsentative Zahlen. Und die sind klar: Viermal mehr Frauen erhalten durch die Reform eine höhere Rente als eine tiefere.Auf der Ebene der Gesetzgebung ist das Ziel einer Reform, dass grundlegende Fehler oder Lücken korrigiert werden und künftig bessere und stabilere Leistungen erfolgen. Dieses Ziel ist erfüllt.
Gleichzeitig werden neu versicherte Frauen mit der Reform auch mehr einzahlen müssen. Damit geben sie mehr von ihrem tiefen Lohn ab, ihre Kaufkraft heute sinkt zusätzlich. Ist es nicht höhnisch, hier von Inklusion zu sprechen?
Man weiss heute, dass diejenigen gute Renten haben, die vom Dreisäulensystem profitieren können. Aber das Gesetz schliesst tiefe Einkommen von vornherein aus. Damit sind diese Erwerbstätigen auch von Renten für Invalidität, für Kinder, für Ehepartner ausgeschlossen. Meiner Meinung nach ist es ein Gebot der Solidarität, dass alle Formen von Erwerbstätigkeit Zugang zum Dreisäulensystem erhalten.
Wenn die Renten der tiefsten Einkommen erhöht werden, fallen sie teils knapp über die Schwelle, ab welcher sich Ergänzungsleistungen beantragen lassen. Damit steht Ende Monat unter dem Strich weniger Geld zur Verfügung.
Das Ziel ist natürlich, die Haushaltsbudgets zu erhöhen. Es soll kein Nullsummenspiel sein, oder punktuell sogar ins Minus kippen. In dieser Vorlage zum BVG hat man die Auswirkungen auf die AHV noch nicht geregelt.
Warum nicht?
Es waren aufwändige und harte Verhandlungen nötig, um diesen Kompromiss möglich zu machen. Aber gerade auch die Abstimmungen rund um die AHV haben die Debatte zur tatsächlichen finanziellen Situation in Rentenhaushalten stark vorangetrieben und ich habe den Eindruck, dass die Botschaft im Parlament angekommen ist. Wir sind mit dieser Reform noch lange nicht am Ende. Sie ist nur ein wichtiger erster Schritt.
Sie beschäftigen sich seit Ihrer Wahl in den Nationalrat mit der beruflichen Vorsorge. Damit haben Sie ein Thema gefunden, das wenig andere in diesem Ausmass bearbeiten und kommentieren. Ein Entscheid aus reinem Interesse oder Kalkül?
Ich möchte dazu beitragen, dass wir uns als Gesellschaft besser organisieren. Zum Dossier der Altersvorsorge bin ich über meine Wahl in die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit gekommen. Und wenn ich schon die Möglichkeit habe, etwas zu bewirken, dann knie ich mich da auch rein.
Nun kandidieren Sie für den Stadtberner Gemeinderat auf einer Liste, die mehr Vielfalt für Bern will. Sie haben mit Abstand die besten Chancen, tatsächlich gewählt zu werden – auch, weil Sie am nächsten an den rot-grünen Positionen liegen. Machen Sie den Gemeinderat tatsächlich diverser?
Ich habe als Grünliberale natürlich andere Schwerpunkte. Unsere Lösungen für ein zukunftsfähiges Bern sind geprägt vom balancierten Zusammenspiel zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Dabei bin ich überzeugt, dass für eine nachhaltig lebenswerte Stadt Bern für alle Generationen mehr Widerspruch und Ideenwettbewerb wichtig sind. Eine starke Demokratie ist die Grundlage für Zusammenhalt und Lebensqualität, und die lebt in der Schweiz nun mal von Vielfalt, nicht von Machtpolitik.
Neben Marieke Kruit (SP) und Janosch Weyermann (SVP) machen auch Sie dem bisherigen Stadtpräsidenten Alec von Graffenried (GFL) seinen Posten streitig. Hand aufs Herz: Wollen Sie dieses unliebsame Amt wirklich?
(lacht) Zum Stadtpräsidium gehören die Stadtentwicklung, Wirtschaftsförderung, Aussenbeziehungen, Kultur und Gleichstellung. Es ist eine unheimlich spannende Direktion, die gut zu meinen politischen Interessen passt. Insofern kandidiere ich sehr gerne dafür.
Ihre Chancen auf den Posten sind gering.
Da es keine stille Wahl gibt, sollte die GLP als drittgrösste Kraft in Bern in diesen Wettbewerb einsteigen und mitkämpfen. Was die Stimmberechtigten davon halten, werden wir sehen.
Zur Person
Melanie Mettler ist Vizepräsidentin der GLP Schweiz und sitzt seit 2019 für die Grünliberalen im Nationalrat, unter anderem in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Davor politisierte sie sieben Jahre lang im Berner Stadtrat. Beruflich berät die promovierte Anglizistin Schweizer KMU in Nachhaltigkeitsfragen. Anlässlich der städtischen Wahlen im November kandidiert Mettler zum zweiten Mal für den Gemeinderat – und erstmals für das Stadtpräsidium. (arb)