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Globaler Süden und Norden

Mit «globaler Süden» werden neuerdings arme Länder auf politisch korrekte Weise bezeichnet. Keine gute Idee, findet «Anzeiger»-Kolumnist Marcel Niggli. Einerseits sei die vermeintlich geografische Verortung ungenau, andererseits würden aus politischen Gründen selbst reiche Staaten des nahen Ostens zum «Süden» gezählt. Das Hauptproblem aber: Mit der Verwendung von ideologischen Begriffen verspielten Medien und Politik das Vertrauen. 

| Marcel Niggli | Politik
Marcel Niggli.
Marcel Niggli.

In jüngerer Zeit tauchen immer wieder die Begriffe «globaler Süden» und «globaler Norden» auf. Unbedarfte wie ich würden dabei wohl an geografische Kategorien denken, etwa die nördliche und die südliche Halbkugel der Erde. Tatsächlich unterscheiden sich die beiden Hemisphären hinsichtlich der Bevölkerungszahl erheblich: Südlich des Äquators leben nur ca. 14 Prozent der Weltbevölkerung (etwa neun Prozent im Osten und fünf Prozent im Westen). Das ist beruhigend, denn sofern ein Problem diese 14 Prozent der Weltbevölkerung beträfe, würden wir es wohl lösen können, gegebenenfalls durch Aufnahme all dieser Menschen im Norden. Die Unterscheidung Nord und Süd lenkt allerdings davon ab, dass die viel erheblichere Ungleichverteilung diejenige zwischen Ost und West ist: In einem Kreis mit ca. 4000 km Radius um Vietnam herum leben mehr Menschen als im Rest der Welt zusammen. 

Aber natürlich ist nicht Geografie gemeint, wenn die Politik geografische Begriffe wie Nord und Süd verwendet. Was für eine kindische Idee aber auch, das mit Geografie zu verbinden. Wenn Ideologien Begriffe verwenden, ist nie das gemeint, was sie bezeichnen. 

Die Unterscheidung stammt von der Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD), einem ständigen Organ der Generalversammlung der Vereinten Nationen. «Globaler Süden» soll dabei den als herabsetzend empfundenen Begriff der Dritten Welt ersetzen und eigentlich Entwicklungs- und Schwellenländer bezeichnen, die sich eben meist in der südlichen Hemisphäre befinden. Kurz: Gemeint sind arme Länder. Denn Kern des Begriffes sind wirtschaftliche Faktoren wie Armut, Einkommen, Lebensstandard, obwohl auch soziale und politische Faktoren wie z. B. Bevölkerungswachstum oder Bildungschancen einfliessen. 

Schaut man sich nun eine Karte an (zu finden etwa auf Wikipedia unter den Begriffen «Global North and Global South», interessanterweise in der deutschen Version «Nord-Süd-Konflikt» geheissen), so findet man Erstaunliches: Das Erste, was auffällt, ist, dass offenbar Australien und Neuseeland zum so verstandenen «Norden» gehören, obwohl sie nun wirklich sehr südlich liegen. Umgekehrt gehört auf dem amerikanischen Kontinent alles ausser den USA und Kanada zum Süden, also das gesamte Lateinamerika, mit Ausnahme von Französisch-Guyana, das anders als seine Nachbarländer zum «Norden» zählt. Zum «Süden» zählen sodann ganz Afrika, der gesamte Nahe, Mittlere und Ferne Osten (allerdings ohne Südkorea und Japan, die zum Norden zählen).

Im Nahen Osten gehört alles zum (armen) Süden, ausser Israel und Zypern. Das erstaunt, denn hinsichtlich des Bruttoinlandproduktes rangieren in der Region bereits nominal die Türkei oder Saudi-Arabien (beide «Süden») vor Israel («Norden»), kaufkraftbereinigt sind es neben diesen beiden noch Ägypten, Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate und der Irak (ausnahmslos alle «Süden»). Auch beim Einkommen pro Kopf ergibt sich nichts anderes (Katar, Brunei, Vereinigte Arabische Emirate, Kuweit, Saudi-Arabien alle vor Israel, alle aber dem armen «Süden» zugerechnet). 

Ähnliches zeigt sich in Fernost: China und Indien zählen zum armen «Süden», Russland zum reichen «Norden». China aber rangiert beim Bruttoinlandprodukt fünf Plätze, Indien drei Plätze vor Russland. Beim Pro-Kopf-Einkommen hat dagegen Russland gegenüber China und erst recht gegen­über Indien die Nase vorn. 

Dass kein einziges arabisches Land dem reichen «Norden», und selbst Singapur und Taiwan dem armen «Süden» zugerechnet werden, lässt vermuten, dass die Unterscheidung Nord/Süd ideologischer ist als sie zugibt. Erahnen lässt sich auch, warum das Vertrauen in Medien und Politik schneller verschwindet als Schnee in der Sonne schmilzt. 

Zur Person

Marcel Niggli ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg.


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