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Zufall der Geburt

Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung könne man nicht selbst wählen, schreibt «Anzeiger»-Kolumnist Peter Stämpfli. Jede Form von Diskriminierung «anderer» sei deshalb von einer unbeschreiblichen, verletzenden Einfalt. 

| Peter Stämpfli | Gesellschaft
Peter Stämpfli. Foto: zvg
Peter Stämpfli. Foto: zvg

Ich wurde in Bern als Schweizer geboren und bin in einer intakten Familie aufgewachsen. Das tönt banal, ich weiss. Und doch ist dieser Zufall, wo und in welche Familie ich geboren wurde, entscheidend. Ich musste in meinem Leben nie hungern, hatte immer frisches Wasser, genoss eine weitreichende Ausbildung, habe im weltweiten Vergleich viel Geld und ausgesprochen viele Freiheiten. Ich erlebe keine Gewalt, kann mich ohne Angst politisch engagieren und auf ein starkes soziales Netz zählen. Wäre ich in San Antonio de los Cobres, Argentinien, oder in Aleppo, Syrien, aufgewachsen, sähe mein Leben völlig anders aus, selbst wenn ich genetisch genau derselbe Peter wäre, der ich bin. Dass ich in einer christlich geprägten Kultur aufgewachsen bin, habe ich nicht gewählt; so wenig wie alle Menschen ihren Kulturkreis, ihre Hautfarbe, ihre Nationalität, ihr Geschlecht und ihre sexuelle Orientierung wählen konnten.

Und deshalb ist jede Form von Diskriminierung «anderer» von einer unbeschreiblichen, verletzenden Einfalt. Wenn heute Muslime für das grauenhafte Massaker der Hamas mitverantwortlich gemacht werden, nur weil sie Muslime sind, oder wenn Jüdinnen wegen der katastrophalen Verhältnisse im Gazastreifen gehasst werden, nur weil sie Jüdinnen sind, dann ist dies eine gesuchte Bösartigkeit. Rassismus und Antisemitismus missachten bewusst die Würde des und der Einzelnen, indem man ihnen ihre Identität abspricht; sie werden als gesichts- und namenlose Vertreter einer Gruppe behandelt, in die sie durch Zufall hineingeboren wurden. Diese Diskriminierung, zu Ende gedacht, meint Primo Levi treffend, führt zum Lager, wo jede und jeder nur noch eine Nummer und kein Mensch mehr ist. Die Missachtung beginnt bei angeblich humoristischen Sprüchen oder «ungewollt» verletzenden Nebenbemerkungen. Sie geht weiter zu absichtlicher Ausgrenzung und zu Anwendung von Gewalt. Die, die diskriminieren, ausgrenzen und hassen, versuchen sich zu überhöhen, weil sie sich sonst als ungenügend empfinden. Die Anderen müssen wertlos sein, um sich selbst als wertvoll zu empfinden. Die Diskriminierenden schaden sich damit selbst.

Die Würde jedes Menschen muss geschützt werden, weil er Mensch ist. Es braucht keine weitere Begründung. Dabei muss ich nicht mit allen und allem einverstanden sein. Bestimmtes politisches Handeln, das Leben einer strengen Gläubigkeit und manches mehr können mich befremden. Befremden ist jedoch nie ein Grund, die Anderen zu entwürdigen. Als Bürgerinnen und Bürger oder vielmehr als Mitmenschen ist es unsere Pflicht, für die einzustehen, die beschimpft, gehasst, angegriffen und ausgegrenzt werden, nur weil sie durch den Zufall der Geburt so sind, wie sie sind. Jeder Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, überhaupt jede Art von Diskriminierung gefährdet den Frieden in der Gesellschaft, auf den wir unverzichtbar angewiesen sind. Tragen wir Sorge zu uns.

 


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