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Bettwanzen in Paris

Von autoritären Regimes wie Russland gesteuerte Desinformationskampagnen werden zunehmend zu einer Bedrohung für den demokratischen Prozess, warnt «Anzeiger»-Kolumnistin Regula Rytz. Sie rät zur kritischen Hinterfragung der Quellen – und zu einer Reise nach Paris.

| Regula Rytz | Gesellschaft
Regula Rytz. Foto: zvg
Regula Rytz. Foto: zvg

Haben Sie schon mal von der Bettwanzenplage in Paris gehört? Ich zumindest bin letzten Herbst voll auf die Warnung hereingefallen. «Aus der Stadt der Liebe ist aktuell die Stadt der Wanzen geworden», schrieb meine Tageszeitung damals pointiert. Umso glücklicher war ich, dass ich von dieser Prüfung verschont blieb. Wenn auch nur knapp. Ein Jahr zuvor nämlich hatte ich in einem stickigen Zimmer im Montmartre einen Jahrhundert-Hitzesommer mit 40,5 Grad im Schatten erlebt. Doch wenigstens von Bettwanzen blieben wir verschont. Der Clou ist: Es gab gar keine Wanzenplage. Die Invasion der kleinen fiesen Tierchen ist eine Erfindung von russischen Internet-Trollen, die Frankreich als Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 2024 (ohne russische Sportler) und als EU-Land diskreditieren wollten. Alle, auch seriöse Medien, haben bei diesem bösen Spiel achtlos mitgemacht. 

Und das ist erst der Anfang. Die Menge an Desinformationen, Fake News und Deep Fakes (gefälschte, echt aussehende Bilder) nimmt auf allen Medienkanälen exponentiell zu. Ein besonders förderliches Umfeld für hetzerische Propaganda sind die aktuellen Kriege, in denen Desinformation als Waffe eingesetzt wird. Das war schon immer so. Aber Digitalisierung und künstliche Intelligenz eröffnen neue Arsenale. So deckte das Medienhaus «Correctiv» kürzlich gefälschte Videos und Regierungsdokumente rund um den Konflikt in Israel und Gaza auf. Zum Beispiel den Film über einen Helikopterangriff, der aus einem Videospiel stammte. 

Eine Meisterin des Informationskrieges ist Russland. Und dies nicht erst seit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine. Eine Studie des unabhängigen «Institute for Strategic Dialogue» zeigt die Mechanismen von Täuschung und Lüge im Detail auf. Reale wie virtuelle Influencer, Whistleblower, bezahlte Aktivisten sowie vermeintlich unabhängige Experten, Wissenschaftlerinnen und Journalisten kapern Medienplattformen und füttern sie mit gesellschaftsspaltenden Inhalten. Dabei legen sie viel Flexibilität an den Tag. Sie nutzen aktuelle Trigger-Themen wie Migration, Klimawandel oder die Gleichstellungs- und Pandemiepolitik, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Alles, was demokratische Grundwerte infrage stellt und Unsicherheit und Konflikte schürt, stärkt die Agenda von Russland und anderen autoritären Staaten.

Eine Desinformationsflut wird auch die Wahlen in den USA prägen. Dank künstlicher Intelligenz ist es heute möglich, die Aussagen einer Politikerin praktisch unmerkbar in ihr Gegenteil zu verkehren. Oder absurde Falschaussagen so lange zu wiederholen, bis sie als Realität wahrgenommen werden. Wie können wir als Bürgerinnen und Bürger in dieser Propagandawalze überhaupt noch Tatsachen von Lüge unterscheiden? Viele seriöse Medien versuchen es mit Fakten-Checks. Das ist gut, reicht aber nicht aus. Meine Empfehlung: Den eigenen Kopf gebrauchen. Also bei jeder reisserisch aufgemachten Geschichte zuerst einmal tief durchatmen und fragen: Kann das überhaupt stimmen? Was sind die Quellen? Wem schadet und wem nützt die Empörung, die damit ausgelöst wird? Wo finde ich unabhängige Informationen zum Thema? Im Falle der Bettwanzengeschichte könnte auch eine Überprüfung vor Ort etwas bringen. Denn Paris ist immer eine TGV-Reise wert!


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