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Mutter und Sohn auf einem kathartischen Roadtrip

Bühnen Bern mit Regisseur Armin Petras adaptieren Christian Krachts «Eurotrash». In Zusammenarbeit mit der Choreografin Berit Jentzsch entsteht eine genreübergreifende Inszenierung mit herausragender schauspielerischer Leistung.

| Bettina Gugger | Kultur
Eurotrash
Jonathan Loosli, Jeanne Devos und Venassa Bärtsch (von links).Foto: Annette Boutellier

Zwei Frauen und ein Mann tanzen synchron zu Rock-’n’-Roll-Musik. Sie tragen senfgelbe Poloshirts und graue Stoffhosen. Ihre Aufmachung mit dunklen Sonnenbrillen steht für einen dandyhaften Lifestyle, tänzerisch verweisen sie auf ihren Kokskonsum.

Die drei verkörpern mal abwechselnd, mal gleichzeitig Christian und seine Mutter, die Figuren aus Christian Krachts 2021 erschienenen autofiktionalen Roman «Eurotrash». 

«Eurotrash», so erklärt die Dramaturgin Felicitas Zürcher zu Beginn der Vorstellung, wird in den USA für das alte Europa verwendet, für den Adel mit Nazivergangenheit, der mit dicken Sonnenbrillen nachts in Diskotheken tanzt. So ein Milieu beschreibt Kracht auf eine scharfe, ironische Weise im Gestus der Mündlichkeit in Anlehnung an seinen Debütroman «Faserland».

Der Vater ist Vorstandsvorsitzender bei Axel Springer, die Mutter schon früh alkohol- und tablettensüchtig. Regelmässig stellt sie sich vor der Waschmaschine tot. Alles ist mit allem auf unerklärliche, unheilvolle Weise verbunden: die Expressionisten im Château des Vaters in Morges, die Wohnung im Londoner Stadtteil Mayfair, das Chalet in Gstaad, die Villa auf dem Cap Ferrat, das Haus auf Sylt und die SM-Kammer des Grossvaters. 

 Bewegung schafft Räume

Der Roman setzt mit der Bitte der kranken, klinikerprobten Mutter ein, der Sohn möge sie doch in Zürich besuchen. Auf dem Weg zur Mutter kauft sich Christian in der Bahnhofstrasse an einem Verkaufsstand einen Wollpullover von einer Schweizer Kommune. Der Pullover liefert schliesslich den Impuls für die bevorstehende Reise mit seiner Mutter – nach Afrika soll es gehen. Der Trip führt Mutter und Sohn zuerst nach Saanen, wo Christian aufgewachsen ist. Unterwegs übernachten sie in der besagten Kommune. Der Wunsch der Mutter, ein Edelweiss zu sehen, führt das Duo mit einer Gondel zu einem Gletscher hoch, weiter nach Genf ans Grab des Schriftstellers Jorge Luis Borges, bis die Reise in einem Pflege­heim in Winterthur endet. 

Die Romanvorlage setzt sich zusammen aus den Dialogen zwischen Mutter und Sohn, aus Erinnerungsfetzen und den Reflexionen des Ich-Erzählers Christian: «Ich hatte das Gefühl, ich hätte mein Leben lang nur Plattitüden von mir gegeben … Niemals war irgendetwas, was ich sagte, auf irgendeine Weise relevant gewesen, nie konnte mein Gesprochenes es mit meinem Inneren aufnehmen», resümiert Christian. 

Regisseur Armin Petras bringt in seiner Inszenierung genau diese nichtverbalisierten Gefühlswelten der Pro­tagonisten auf die Bühne. Dabei erfolgt der Zugang über den Körper. In der Zusammenarbeit mit der Choreografin Berit Jentzsch befreit Petras die eingekapselten Gefühle Christians und dessen Mutter – durch die Bewegung. Über die Körper wolle sie Geschichten genre­übergreifend erzählen und «mit den Körpern Räume schaffen», erklärt Berit Jentzsch im Gespräch mit Felicitas Zürcher. So zeigt das Bühnenbild den Querschnitt einer Art Halfpipe, an der sich die Figuren abmühen. Diese Halfpipe steht für die Reise über Berg und Tal, für das Abgleiten in Abgründe und die kathartische Reinigung, welche die Beziehung zwischen Mutter und Sohn erfährt. 

Alle drei Schauspieler, Vanessa Bärtsch, Jeanne Devos und Jonathan Loosli spielen sowohl die Mutter als auch Christian. Die Verkörperung der dementen, alkohol- und tablettenabhängigen Mutter gelingt besonders der 39-jährigen Jeanne Devos auf eindrückliche Weise, als hätte sie die Bewegungen einer dementen, geistig kranken 80-Jährigen völlig internalisiert. 

Die Gespräche oszillieren zwischen Oberfläche und Abgrund. Auf die Frage, was die Mutter bereue, stimmt Vanessa Bärtsch stimmgewaltig Edith Piafs «Je ne regrette rien» an und zeichnet damit die Ambivalenz dieser Mutter, die noch immer den Gestus der Grande Dame mimt, der aber letztendlich der Mut im Leben gefehlt hat, wirkliche Grösse zu zeigen. Stattdessen betäubt sie sich und versteckt ihr Gesicht hinter der Bulgari-Sonnenbrille. 

Die Schwere des Stoffes, die Nazivergangenheit des Grossvaters, die Vergewaltigung der Mutter als Elfjährige, eine traumatische Erfahrung, die auch dem elfjährigen Christian in einem kanadischen Internat widerfährt, wird aufgelockert von komischen Momenten, etwa wenn das Duo die Bank besucht, um ihr Reisegeld abzuheben. Hier offenbart Jonathan Loosli als Bankangestellte sein komödiantisches Talent, wenn er Mutter und Sohn die Aktienanteile aus der Milchwirtschaft und der Waffenindustrie in Form eines Kuchens präsentiert, von dem genüsslich genascht wird. Die Mutter erhöht die Summe von 600 auf 600 000 Franken und beschliesst, das Geld zu verschleudern, respektive zu verschenken – der Sohn soll ihr dabei helfen.

 Den Schmerz befreien

Die eindrücklichsten Momente entstehen durch die tänzerischen Bewegungen, etwa wenn alle drei Darstellenden den Kopf im Pullover verstecken und damit den Geburtsvorgang mimen, begleitet von den wüsten, obszönen Beschimpfungen und Drohungen der Mutter. In dieser Szene offenbart sich das komplizierte Verhältnis von Mutter und Sohn, ein Verhältnis, das körperlich bedingt und nicht zu kappen ist. Die traumatischen Erfahrungen der Geburt, die durch Worte nicht zu heilen sind. 

Dieser Szene steht der Moment gegenüber, wenn sich die Mutter in der Ökoherberge in Saanen tot stellt. Christian (Jonathan Loosli) hält die Mutter (Jeanne Devos) in den Armen, er trägt und schwingt sie herum, zärtlich und wütend zugleich. Die Mutter fällt kopfüber, dann rollt er sie über seinen Rücken, bis sie schliesslich auflacht – sie hat sich nur tot gestellt, wie so oft in seiner Kindheit. Dazwischen muss Christian den Beutel ihres Stomas wechseln. Die drei Körper der Darstellenden verschränken sich: In diesem Moment verkehrt sich die natürliche Hierarchie. Der Sohn ist nicht mehr länger Sohn, nun hat er sich um die Ausscheidungen der Mutter zu kümmern, so wie sie sich einst um seine gekümmert hat.

Und da sind die Geschichten, die Christian (Jonathan Loosli), ans Publikum gewandt, zum Besten gibt, beispielsweise die Geschichte der Gebrüder Schlumpf, die ihre im Brand zerstörte Autosammlung in Schokolade nachbauen lässt, um sie in einer klimatisch abgekühlten Hotelsuite aufzubewahren. Durch die Ebene der Fiktion sind Mutter und Sohn verbunden – und so verabschieden sie sich voneinander, in einem Pflegeheim in Winterthur, das in der Fantasiewelt der Mutter in Afrika liegt. 

Mit «Eurotrash» liefern Vanessa Bärtsch, Jeanne Devos und Jonathan Loosli eine schauspielerische Glanzleistung. Rasch gewöhnt sich der Zuschauer an die Fluidität der Rollen, welche den geistigen Zustand der Mutter und den Wahnsinn des Settings unterstreicht und deutlich macht, das wir immer auch die Geschichte der anderen mit uns – und an ihnen – tragen.

Vidmar 1, Bern, 21. und 27. Dezember, 6. und 13. Januar, jeweils 19.30 Uhr. Infos: buehnenbern.ch 


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