Ruth ist auf der Heimfahrt. Sie hat mit dem Auto ihre beiden Jungs, die über die Sommerferien zu Hause waren, auf den Zug gebracht, der sie zurück ins Internat bringt. Daheim wartet ein leeres Haus auf Ruth. Vielleicht ist Angela zu Hause? Ruth kreuzt ihre Tochter auf der Strasse. Hinten auf einem Motorrad sitzend, winkt sie der Mutter zu. Ruth Whiting könnte sich eigentlich glücklich schätzen. Sie hat alles, was in dieser Zeit angesehen ist: Einen Ehemann – einen Zahnarzt, der jedes Wochenende aus der Stadt nach Hause kommt –, ein schönes Haus in einer dörflichen Idylle und nette Nachbarn. Doch die Protagonistin ist nicht glücklich. Durch die Regelmässigkeiten des Alltags, der Langeweile und Reizarmut der dörflichen Umgebung wächst in Ruth eine Unruhe, der sie nichts entgegenhalten kann. Alles fühlt sich auf einmal bedrohlich an. Ruth wurde jung schwanger, bevor sie überhaupt Zeit hatte, herauszufinden, was sie sich vom Leben erwünschte. Sie heiratete, auf die Tochter Angela folgten zwei Söhne, doch die Ehe blieb freudlos. Beide Ehepartner fühlen sich in der Beziehung einsam und gefangen. Als auch Angela ungewollt schwanger wird und sich der Mutter anvertraut, will Ruth alles dafür tun, der Tochter ein Schicksal wie das ihrige zu ersparen. Die Suche nach einer Lösung hinter dem Rücken des Ehemannes und Vaters wird zu einer Odyssee. Der Roman, 1958 geschrieben, wird konsequent aus Ruths Perspektive erzählt. Durch Ruths Augen erfahren wir eindrücklich von den Abgründen eines unfreien Frauenlebens, dem Schmerz und der Zerrissenheit der ungewollten Mutterschaft.
Penelope Mortimer: «Bevor der letzte Zug fährt». Aus dem Englischen von Kristine Kress. Dörlemann Verlag, Zürich 2023.
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