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Mehr als toxische Männlichkeit
In «Sirenengesang» beschäftigt sich Artur Kilian Vogel mit der dunklen Psyche eines Stalkers. Dabei webt er einen Kriminalfall in den Roman ein, der vor über 20 Jahren für Aufsehen sorgte.
Mit «Sirenengesang» legt Artur Kilian Vogel, früherer Chefredaktor des «Bund», seinen sechsten Roman vor, in dem er menschliche Abgründe erforscht; «Sirenengesang» ist das Psychogramm eines Stalkers. In Rückblenden erzählt der Protagonist, ein 51-jähriger Softwareentwickler, von seiner traurigen Kindheit und der ersten Annäherung ans weibliche Geschlecht, die nichts Gutes verhiess. Der Erzählstrang der Vergangenheit und die Ebene der Gegenwart, die mit einem Restaurantbesuch im «Sirenengesang» beginnt, vermischen sich zu einer rasanten Erzählung, die einen Sog entfaltet.
In seinem Stammlokal, in dem er jeden Donnerstagabend Lebern mit Röstkartoffeln isst, wird der Protagonist auf seine «Beute» – der Begriff «Stalking» hat seinen Ursprung in der Jagdsprache – aufmerksam. Der Erzähler verliebt sich in die Frau im grünen Seidenkleid, die mit ihrem Begleiter am Nebentisch diniert und sich ein Häppchen vom Kalbskotelett in den Mund schiebt: «Sie blickt, kauend, zu mir herüber und lächelt. Kauen und lächeln. Ein seltsames Zusammenspiel zweier Gesichtsfunktionen, von denen man glaubt, sie seien gleichzeitig nicht möglich.»
Der Erzähler besticht durch seine genaue Beobachtungsgabe, seinen Humor und seine Fähigkeit zur Selbstanalyse. Damit räumt Vogel mit dem Vorurteil auf, dass dem Wahnsinn stets Irrationalität zugrunde liegt.
Die aufwendige Recherche
Mit seiner Vespa nimmt der Protagonist die Verfolgung von «Linda Evangelista» und ihrem Begleiter «Belmondo», wie er die Angebetete und seinen Konkurrenten künftig nennt, auf. Gleichzeitig erfährt der Leser von der jüngsten Vergangenheit des Protagonisten, der im Streit beinahe seine Exfreundin Kathy erwürgte, nachdem er sie wochenlang gestalkt hatte. Eine erste Therapie mit der Psychologin Myrtha Schertenleib scheiterte. Er begann auch sie zu stalken.
«Durch eine Freundin, die mir von ihrer Stalking-Erfahrung berichtete, wurde ich aufs Thema aufmerksam», erzählt Vogel. Daraufhin begann er zu recherchieren, las Bücher über die juristischen Aspekte, unterhielt sich mit einer Psychotherapeutin über die zugrunde liegenden Persönlichkeitsstörungen der Täter und Täterinnen. «Aber auch in mir selbst bin ich im Zuge der Recherche auf dunkle Aspekte gestossen», so der Medienprofi, der einst Rechtswissenschaft an der Universität Zürich studierte, den Journalismus dem universitären Betrieb jedoch früh vorzog. Für den «Tages-Anzeiger» war er in den 80er-Jahren vier Jahre lang Gerichtsreporter, in den 90er-Jahren Nahostkorrespondent für den «Tages-Anzeiger» und den Wiener «Standard». «Die Ausgangssituation des Journalisten und des Schriftstellers ist die gleiche», meint Vogel. «Die Recherche ist das Aufwendigste.» «Sirenengesang» habe er schliesslich in nur zweieinhalb Wochen zu Papier gebracht.
Im Zuge seiner Recherche stiess Vogel auf den Fall des «Mitternachtsmörders», wie die Medien vor über 20 Jahren titelten. In der Nacht vom 1. August 2002 verletzte der erfolgreiche Waffenläufer Mischa Ebner zwei Frauen innerhalb weniger Stunden in Bern-Bümpliz und Niederwangen schwer. Eines der Opfer erlag seinen Verletzungen. Diesen Fall webt Vogel in seinen Roman ein; Mischa Ebner erscheint als Balthasar, der auch noch nach 20 Jahren eine Faszination auf den Protagonisten ausübt; ein sozial erfolgreicher, gutaussehender junger Mann, gelernter Koch, für den seine Vorgesetzten nur lobende Worte übrig hatten und der eine erfüllende Partnerschaft führte. «Eine solche Tat ist nicht verzeihbar», meint Vogel. «Mir war aber damals klar, dass der Tat etwas tief Verborgenes zugrunde liegen musste», meint der Autor. Mischa Ebner und sein Bruder wurden in den ersten Lebensjahren vollkommen vernachlässigt, die Mutter war verschwunden, der Vater ein alkoholkranker Kleinkrimineller.
Freiheit der Literatur
Der Psychiater, dem der Erzähler von Balthasar und seinem Bruder Moritz berichtet, reagiert mit dem lapidaren Satz: «Im Vergleich zu Moritz und Balthasar war Ihre Kindheit ja geradezu harmonisch.» Ein folgenreiches Missverständnis. Der Protagonist hält fest: «Mein Psychiater dachte wohl, ich würde aus Balthasars Geschichte meine Lehren ziehen. Was ich ihm nicht sagte, war, dass sie mich im Gegenteil faszinierte. Der Gedanke, eine Frau umzubringen, erregte mich.»
Während der Journalismus formgebunden sei, erlaube die Literatur Zwischentöne, meint Vogel. In «Sirenengesang» beschreibt Vogel eindrücklich die Entwicklung eines Stalkers, der seinen Opfern nachstellt, sie observiert, in ihrem Namen Waren im Internet bestellt bis hin zum Jobverlust und dem Alkoholmissbrauch, der seine Wahrnehmung wiederum massiv verzerrt.
Vogel, der 2013 mit dem literarischen Schreiben begonnen hat, als er regelmässig morgens um vier erwachte und sich an den Schreibtisch setzte, bereut, nicht schon viel früher mit dem Schreiben von Romanen begonnen zu haben: «Das ist viel befriedigender als das journalistische Schreiben», lacht er.
«Sirenengesang», Cameo Verlag, 2023, Bern. ISBN 9783039510320