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«Den fast fanatischen Perfektionismus kann ich erst heute verstehen»

Diesen März wäre der Berner Musiker und Komponist Arthur Furer 100 Jahre alte geworden. Sein Neffe Kaspar Zehnder, Dirigent und Flötist, organisiert ihm zu Ehren ein zweitägiges Festival, das gerade der jungen Generation Arthur Furers Werk zugänglich machen soll. Der «Anzeiger Region Bern» sprach mit Kaspar Zehnder über das reiche Erbe seines Onkels. 

| Bettina Gugger | Kultur
Zehnder
Arthur Furer mit seinem Neffen Kaspar Zehnder in Prag. Foto: Martin Zehnder

«Anzeiger Region Bern»: Herr Zehnder, Sie haben ein reichhaltiges Programm zur Feier anlässlich des 100. Geburtstages von Arthur Furer zusammen­gestellt. Wie sind sie kuratorisch verfahren? 

Kaspar Zehnder: Arthur Furer hat als lokaler Musiker und Komponist massiv gewirkt. Meine zentrale Idee war, ihn einer jungen Generation, die ihn unter Umständen gar nicht kennt, zugänglich zu machen, damit sein Erbe auch weitergeführt wird. Daher war mir wichtig, dass viele junge Leute mitmachen können. Mein Ziel war nicht, selbst viel von ihm aufzuführen, da ich das schon zu seinen Lebzeiten gemacht habe. Mit der Kirchgemeinde Petrus haben wir einen Partner gefunden, der sich selbst stark involviert und uns die Räumlichkeiten zur Verfügung stellt. 

Arthur Furer hat selbst lange in der Kirchgemeinde Petrus gelebt und den Kirchenchor geleitet. War daher die Petruskirche als Örtlichkeit gegeben?

Die 1949 eröffnete Petruskirche passt gut zu dieser Art Musik, die von den 1940er-Jahren an komponiert wurde. In diese Zeit fällt auch der Bau der Petrus­kirche. Das ist ein klassischer, nüchterner Raum, der mit Inhalt gefüllt werden will. An diesem Ort hat ­Furer zuerst als Kirchenmusiker gewirkt, obwohl er nicht unbedingt ein kirchlicher Mensch war. Die Verbindung entstand mehr durch die Familie seiner Frau, meine Grossmutter mütterlicherseits war die erste Kirchgemeindepräsidentin der Petruskirche. 

Er hat viel für den Spontangebrauch komponiert und es sind auch ein paar Stücke dort uraufgeführt worden. Ich wollte dorthin gehen, wo er gewirkt hat und wo es noch viele Leute gibt, die ihn in Erinnerung haben; das finde ich schön, dort anzusetzen, wo er schon mal war oder irgendwie immer noch ist. 

Und so war es auch naheliegend, die Feier mit dem Gottesdienst am Palmsonntag zu verbinden …

Mich hat «Golgatha» sehr interessiert. Furer hat das Stück für den Berner Kammerchor komponiert. Unter der Leitung von Jörg Ewald Dähler wurde es im Karfreitagskonzert im Münster uraufgeführt. Ich war an dieser Uraufführung als Bub dabei. Meine Flötenlehrerin Heidi Indermühle spielte mit; das Stück ist für Flöte, drei Posaunen, Schlagzeug und gemischten Chor. Diese Kombination klingt sehr apart, hat etwas Archaisches. Die Flöte ist eine ­G-Flöte, eine tiefe Flöte. Das Stück stand unbedingt auf meinem Plan. 

Da der 24. März eine Woche vor Ostern ist, habe ich den Pfarrer gefragt, ob er sich vorstellen könne, das Stück in den Gottesdienst einzubauen. Er war sofort Feuer und Flamme und schlug vor, dass der Schweizer Jugendchor auch die Lieder mitsingt; der Akt ist zugleich ein Festgottesdienst zum 75-jährigen Bestehen der Petruskirche. 

Ist das eine Ihrer frühsten Erinnerung an Arthur Furer als Komponist?

Mein Bruder, der sein Göttibub war, erzählte mir mal: «Weisst du, der Turi ist Komponist, so wie Bach und Mozart.» Irgendwann tauchte er dann morgens um 11.00 Uhr bei uns auf – mein Vater war sein Hausarzt – und da fragte ich meine Mutter: «Können die Komponisten einfach komponieren gehen, wann sie wollen?» Das hat mich damals fasziniert, wobei ich selbst nie hatte komponieren wollen. 

Später fand ich es spannend, mit Komponistinnen und Komponisten zusammenzuarbeiten und von ihnen zu erfahren, wie sie sich etwas vorgestellt hatten. Sobald ich professionell dirigierte, führte ich Werke von Arthur ­Furer auf – seine Musik ist sehr anspruchsvoll und nicht unbedingt für den Laiengebrauch geschrieben. So habe ich mich durch seinen Werkkatalog durchgefressen. Die eigentliche Beziehung zu ihm begann, als ich als Theorieschüler für ihn eine Art Projektions­fläche sein konnte. Es war schön, mit ihm über seine Stücke zu sprechen. Er bot mir an, mich in Musiktheorie zu unterrichten, als er wusste, dass ich Berufsmusiker werden wollte. Zu Weihnachten schenkte er mir jeweils ein paar Theoriestunden. Ich ging nicht immer wahnsinnig gerne in den Unterricht, aber ich hatte immer genügend Respekt und Anstand, sein Angebot anzunehmen. Und letztendlich habe ich sehr viel davon profitiert.

Was hat Ihnen Arthur Furer über das Fachliche hinaus mitgegeben? 

Seit 30 Jahren führe ich seine instrumentalen Stücke mit Orchester auf und zum ersten Mal lerne ich von ihm auch vokale Stücke. Während der Feier dirigiere ich drei Chorwerke mit Instrumenten, und da lerne ich einen Furer kennen, der mich unmittelbar berührt. Ich beginne ihn irgendwo zu spüren, wo ich ihn vorher noch nicht so gespürt habe. Ich habe das Gefühl, dass ihm das Vokale ganz nahe war; dort schöpfte er aus der Tiefe, während ein gros­ser Teil seiner instrumentalen Musik ­Gelegenheitskompositionen waren. Da kom­men Dinge zum Vorschein, die ich als Teenager von ihm mitbekommen habe; im Gestalten eines einzigen Satzes steht ein unerhörter Perfektionismus. Er hat jeweils gesagt: «Weisst du, in meinem Beruf bist du nie fertig, weder als Lehrer noch als Komponist.» Das stetige Suchen und Feilen und den fast fanatischen Perfektionismus kann ich erst heute verstehen und nachempfinden. Mir geht es heute wohl ähnlich wie ihm; mit 50 hat man plötzlich das Gefühl, man möchte der Sache tiefer auf den Grund gehen. 

Sie sprechen davon, dass Sie beim Dirigieren Energie von oben empfangen und dann diese Energie ans Orchester weitergeben. Wie hängt dieses Loslassen mit dem Perfektionismus zusammen?

Am Ende sollte man loslassen können, wenn irgendwo eine Art Genialität beginnen soll. Man spricht in diesem Zusammenhang nicht zufällig von einer Sternstunde. Die Sternstunde kann man im Grunde nicht herholen, und trotzdem strebt man immer nach ihr. 

Als Dirigent stehe ich in der Mitte zwischen Orchester und Publikum und bilde als die einzige stehende Person die Vertikale im Raum. Ich bin nicht derjenige, der alles befiehlt – ich verstehe mich vielmehr als Medium. Im Idealfall durchdringt aufgrund von viel Vorbereitung und gemeinsamer Arbeit Inspiration den Raum. Dann spüre ich viel Energie und gebe sie ans Orchester, wovon sehr viel zurück - und wieder durch mich hindurch zum Publikum fliesst. Das Publikum wird berührt, reagiert darauf mit Applaus und Begeisterung oder Ergriffenheit, was wiederum den Menschen auf der Bühne viel zurückgibt. Das ist wie ein Pendel, das Hin und Her schwingt. Während der Pandemie hat man sehr stark gemerkt, dass dieser Energiefluss nicht funktionierte, weil man nicht vor Publikum, sondern nur vor der Kamera spielen durfte.

Also sorgt der Perfektionismus für die notwendige Präsenz im entscheidenden Moment …

Ja genau. Letztendlich ist der Dirigentenberuf erst dann spannend, wenn es wirklich um Energie geht, wenn man die Leute motivieren und sie dort abholen kann, wo sie sind, um sie zu einer Gruppenleistung zu führen, wo sie als Kollektiv über sich hinauswachsen. Als Dirigent muss man dafür dankbar sein, wenn man das bewirken konnte, aber man darf nicht erwarten, dass man dafür weiterhin im Zentrum steht. Der Dirigent muss zurückstehen können, sonst birgt es Konfliktpotential. Dennoch ist der Dirigent ein Stückweit ein General, eine Art Feldherr – oder eine Feldfrau: mittlerweile gibt es ja auch immer mehr Dirigentinnen. Dadurch, dass die Frauen lange nicht an den Dirigentenposten kamen, können sie ganz Neues einbringen, das sehe ich als grosse Chance. Es hatte sehr viel Energie zum Durchbrechen der Macht des «alten weissen Mannes» gebraucht. Noch vor 20 Jahren waren es nur etwa fünf Frauen weltweit, die als Dirigentinnen Karriere machen und davon leben konnten. 

Das militärische Bild widerstrebt eigentlich der Essenz des Dirigierens, aber dirigieren heisst halt auch leiten, regieren und führen. Da ich die gesamte Partitur sehe und kenne, muss ich beispielsweise der Flötistin, die nur ihre Stimme vor sich hat, ihre Rolle im ganzen Gefüge deutlich machen. Dirigieren ist eigentlich nichts anderes als Koordinieren, eine Firma führen. Ich fühle mich auch als Soundengineer, der am Mischpult ist und die Farben austariert, mischt oder koordiniert. 

Können Sie uns etwas zur Entstehung von «Lob der Gottheit» von 1993/1994, erzählen, das den Höhepunkt der beiden Festkonzerte bildet?

«Lob der Gottheit» ist ein interreligiöses Werk. Die Basis bildet eine Psalmnachdichtung aus dem 18. Jahrhundert, der Text verbindet jüdische, muslimische, hinduistische und buddhistische Sakraltexte, die in einer einzigen Aussage münden. Das macht das  Werk heute extrem aktuell.

hat davon geträumt, die Kulturen und Religionen dieser Welt zusammenzubringen. Er war am Ende kein gläubiger Christ mehr. Er war eine Art Agnostiker, dem der Pantheismus am nächsten lag. Das Göttliche fand er am ersten in der Natur, in einem blühenden Zweig im Frühling oder in einem Gespräch. Das kultivierte er in den letzten Lebensjahren, indem er unseren Kindern, die damals noch ganz klein waren, liebliche Dinge wie Osterhäschen und Adventskalender schenkte. Das wäre vorher nicht denkbar gewesen, da war er der gestrenge Lehrer, mit dem man hauptsächlich über Musik reden konnte. 

Was ist der Hintergrund von «Vita perennis», das den Auftakt der Festkonzerte bildet?

Furer schrieb «Vita perennis» 1978 für den Männerchor Thun zu dessen 150. Jubiläum. Der Text «Jahraus Jahrein» stammt von Josef Weinheber und handelt vom Rad des Lebens. Brisant ist, dass Josef Weinheber ein glühender Nazi in Österreich war, was man dem Text allerdings nicht anmerkt. Unter den Nazis wurde er vom halberfolgreichen zum ganz erfolgreichen Schriftsteller. Er bekam von den Nazis sehr viel Rückenwind, weil seine jüdischen Konkurrenten, Stefan Zweig und Karl Kraus, die auch seine Lehrer und Mentoren gewesen waren, Ende der 30er-Jahre wegfielen. 1945 kurz vor Kriegsende brachte Weinheber sich um.  Es gab noch kein Wikipedia. Weinhebers Texte blieben in in allen österreichischen Schullesebüchern und deutschsprachigen Lyrikanthologien präsent, wo sie Furer auch entdeckt hatte. Übrigens war auch Heinrich Waggerl, dessen «Heiteres Herbarium» Furer zu den «Blumenliedern» inspirierte, ein Nazi. Das wusste Furer alles nicht. Mit Bestimmtheit kann ich sagen, dass Furer keinerlei Sympathien für faschistisches Gedankengut hegte. Er hat noch Aktivdienst in der Schweiz geleistet und bis ins hohe Alter von seinem damaligen Patriotismus gesprochen. Er ist nie mehr besonders deutschfreundlich geworden.

Arthur Furer war sehr lokal orientiert, «ein Berner in Bern und für Bern», wie Sie in Ihrer Pressemittelung schreiben. Ging er auch auf Reisen?

Auf Reisen ging er nicht gerne. Wir haben mit der Familie zwei, drei Reisen unternommen, einmal sind wir nach Ungarn gefahren, das war spannend. Letztendlich wollte er aber schnell wieder nach Hause. Er zog ein einziges Mal in seinem Leben um, von Worb nach Bern, wo er geheiratet hat. Er lebte bis zu seinem Tod immer im gleichen Haus. Am Tag, als er fast 90-jährig starb, ging er zu Freunden zum Mittagessen und fuhr mit dem Auto nach Hause. Vor dem Haus stieg er aus, setzte sich auf die Treppe und starb. Mein Vater, der sein Nachbar war, wurde kurz darauf zu ihm geholt. So wollte er abschliessen, in der Umgebung seines Hauses. 

Er hat jedoch viel gelesen und wusste sehr viel. Sein Wissen hatte er sich alles selbst angeeignet. Er litt auch immer ein bisschen unter einem Intellektualitätskomplex und liess sich gerne über die Intellektuellen aus, da er als Lehrer mindestens so viel wusste wie die sogenannt «Studierten». 

Haben Sie aus Arthur Furers Nachlass noch etwas Unbe­kanntes geborgen?

Mein Cousin Martin Furer hat ein Blumenlied gefunden, das noch nie aufgeführt wurde: «Ich sah des Sommers letzte Rose stehen» für Frauenchor ­a cappella aus dem Jahr 2013, komponiert nach einem Gedicht von Friedrich Hebbel. Das werden wir am Palmsonntag mit dem Schweizer Jugendchor uraufführen. Seinen Nachlass hat er aber weitgehend selbst verwaltet. Sogar seine Beerdigung hat er selbst geplant, mit Hinweisen auf die gewünschte Musik, die gespielt werden sollte. 

 

22. März, 17.00 Uhr, Burgerbibliothek Bern, Einführung zum Jubiläum,
23. und 24. März, Petruskirche Bern, Programm: kasparzehnder.com


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