Was, wenn einem in der Kindheit so unaussprechlich Schlimmes widerfuhr, dass man die Geschichte lange verdrängt? Was, wenn man später dafür kämpfen muss, dass die eigene Familie dieses Unrecht anerkennt? Und was, wenn die eigene Familie das Erlittene als kindliche Fantasie abtut?
Genau das passiert Bergljot. Während Jahren kämpft sie für Gerechtigkeit, mit ihren Eltern spricht sie nicht mehr, zu tief sitzt der Schmerz über das Erlebte, und auch zu ihrem Bruder und den zwei Schwestern hat sie ein schwieriges Verhältnis. Ein Erbstreit führt dazu, dass wieder über die Vergangenheit gesprochen wird. Als der Bruder anerkennt, was seiner Schwester als kleines Mädchen widerfahren ist, verhärten sich die Fronten. Der Vater ist gestorben, über einen Toten sollte man keine schlechten Worte verlieren. Die Mutter verschliesst nach wie vor lieber die Augen vor der Wahrheit, als sich einzugestehen, dass sie damals für ihre Tochter hätte kämpfen müssen, mit dem Risiko, ihr bequemes Leben zu verlieren. Und den beiden Schwestern geht es einzig darum, einen grossen Brocken vom Erbe abzukriegen.
Vigdis Hjorth gelingt ein aufwühlender und spannender Roman, den man nicht mehr aus der Hand legt. Obwohl lange nicht ausformuliert wird, was der Protagonistin als kleines Mädchen passiert ist, ahnt man beim Lesen bald, worum es geht. Dies nimmt der Geschichte aber keineswegs die Spannung. Während über das Erbe gestritten wird, steht Bergljots Geschichte wie ein Elefant im Raum. Dabei möchte Bergljot nur, dass ihre Familie ihren Schmerz anerkennt. Sie versucht sich von ihrer Vergangenheit zu befreien und zweifelt doch auch immer wieder an sich selbst.
Die norwegische Autorin wurde 2023 für den International Booker Prize nominiert.
Vigdis Hjorth: «Ein falsches Wort», S. Fischer Verlag, 978-3-10-397513-0,
Buchhandlung Haupt, www.haupt.ch