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Traumhafte Spiegelungen

In dieser Kolumne erzählen Carola Ertle und Günther Ketterer von einem Künstler, der sich dem Werk von Ernst Ludwig Kirchner in besonderer Weise annähert.

| Carola Ertle und Günther Ketterer | Kultur
Ketterer
Foto: Alexander Egger

Vergangenes Jahr hat uns der in Frankreich lebende Künstler Kevin Pearsh zum wiederholten Mal besucht. In gemütlicher Runde haben wir über Kunst und die Welt diskutiert. Beim Rundgang durch unsere Wohnung hat ihn das Gemälde eines trinkenden Mannes von Ernst Ludwig Kirchner in den Bann gezogen und nicht mehr losgelassen. Von Farbigkeit und Motiv inspiriert, hat sich Kevin intensiver mit dem Werk Kirchners beschäftigt.
Seit den 1970er-Jahren arbeitet Kevin an einem farbenprächtigen Werk, wovon insbesondere eine über mehrere Jahre entstandene Serie über den Ganges internationale Aufmerksamkeit erhielt. Von 2006 bis 2007 hat Kevin in 21 Gemälden erstmals den Lauf des Ganges von der Quelle bis zur Mündung in Gemälden festgehalten – von Gaumukh bis Ganga Sagar. Seine Motive malt Kevin seit den 1990er-Jahren immer wieder als Spiegelungen im Wasser. Mal ruhig und gemächlich, mal bewegt und aufbrausend, können die Reflexionen das Motiv leicht verschwimmen lassen oder ganz ins Abstrakte auflösen. Für Kevin sind diese Gemälde eine Meditation über das Verhältnis von Traum und Realität. Er beschreibt die verwischten und verschleierten Spiegelwelten des Wassers als Träume mit fliessender und nicht fassbarer Erscheinung.

Die Bildgegenstände scheinen jeden Moment in der Auflösung zu entwischen, tauchen wieder auf und diese Ambivalenz verbindet der Künstler mit dem Traumhaften.
So war er von der Frage inspiriert, ob Kirchner sein monumentales Gemälde «Alpsonntag», entstanden von 1923 bis 1925, in der gleichen Art und Weise erträumt hatte. Kevins «Mein gespiegelter Kirchnertraum» aus dem Jahr 2023 nimmt die Farbigkeit und die Komposition von Kirchners Werk auf, er verlegt den Ort des Geschehens aber an einen leicht bewegten Bergsee. Die Konturen der Figuren werden zu gewellten Linien und lassen die Komposition in traumhafte Ferne rücken. Kevin behält die Proportionen bei, halbiert jedoch die Seitenlängen des Gemäldes und kommt so auf immer noch stattliche 80 × 200 cm. Kirchner bezeichnete seinen «Alpsonntag» als «Bild der Ruhe und des Friedens», die elf Figuren sind auf einer Bildebene versammelt und der Künstler führte verschiedene Kompositionsmuster aus seinem Repertoire in diesem Monumentalwerk zusammen.
Das Gemälde wurde 1933 vom Kunstmuseum Bern angekauft. Wir wünschen allen Lesenden viel Vergnügen beim Betrachten von Kirchners traumhaften Bild. Wir hoffen, dass Ihnen dabei Kevins verträumte Interpretation im Hinterkopf bleibt und Sie in beide Gemälde eintauchen werden, so wie es uns geschehen ist.

19 2024 Kulturkolumne neu

Kevin Pearsh: «Mein gespiegelter Kirchnertraum». Foto: zvg

 

Carola Ertle und Günther Ketterer widmen sich mit ihrer Kunstsammlung schwerpunktmässig der Videokunst.


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