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Anderegg tourt durch Berner Vereinslandschaft

Die wenig bekannte Grüne Ursina Anderegg kandidiert für den Stadtberner Gemeinderat. Ihr Wahlkampf ist unkonventionell, zeitaufwendig und führt auch in die Moschee.

| Sophie Feuz | Politik
Ursina Anderegg (Mitte) im Gespräch mit Muveid Memeti und Besart Shala vom Muslimischen Verein. Foto: Sophie Feuz
Ursina Anderegg (Mitte) im Gespräch mit Muveid Memeti und Besart Shala vom Muslimischen Verein. Foto: Sophie Feuz

Vor dem Gebetsraum in der Moschee heisst es: Schuhe ausziehen. Die grüne Gemeinderatskandidatin Ursina Anderegg ist zu Besuch beim Muslimischen Verein im Haus der Religionen Bern. Unterwegs ist sie im Rahmen ihrer «Vorkampagne» für die Wahlen im Herbst; «Ursina hört zu» nennt sie diese Phase ihres Wahlkampfs. 

Vierzigmal zu Besuch

Anderegg hat sich an Veranstaltungen, von denen sie vorher nicht weiss, was sie genau erwarten wird, gewöhnt: Über zwanzig Besuche bei Sportvereinen, politischen Organisationen und Quartiertreffs hat sie schon hinter sich. Vierzig werden es total bis vor den Sommerferien sein. Das erklärte Ziel dieser «Vorkampagne»: bei verschiedensten Bevölkerungsgruppen «den Puls fühlen und ein partizipatives Wahlprogramm erarbeiten». Der offensichtlich erhoffte Effekt: Der Besuchsreigen soll frühzeitig Andereggs Bekanntheit fördern. Anmelden konnte man sich für die Treffen via Onlineformular. Doch die meisten Besuche organisierte ihr Team. 

So auch den Besuch im Haus der Religionen am letzten Samstag. Begleitet wird die 43-Jährige von der Stadtratskollegin Franziska Geiser. Vonseiten des Muslimischen Vereins sind der Präsident Muveid Memeti und zwei weitere Vereinsmitglieder anwesend. Memeti führt durch die Moschee. Die Gebetsräume sind mit bunten Ornamenten und Kalligrafien geschmückt. Vor dem Kronleuchter erklärt der 29-Jährige, dass er von Mitgliedern sehr positive Rückmeldungen erhalten habe. «Dieser Besuch ist ein schönes Zeichen und nicht selbstverständlich. Die Mitglieder fühlen sich wertgeschätzt.» 

Treffen «ohne Agenda»

Später, beim Gespräch in der kleinen Cafeteria, sind gemeinsame Themen schnell gefunden: Kinderbetreuung, bezahlbarer Wohnraum, leichte Sprache und Stimmrecht für ausländische Bevölkerung. Memeti und Vorstandsmitglied Besart Shala sprechen über Anerkennung und Zugehörigkeit. Dass der Muslimische Verein mit seinen jetzt 300 Mitgliedern vor zehn Jahren ins Haus der Religionen umzog, wurde von konservativer muslimischer Seite kritisiert. 

Manchmal klappt’s auch nicht, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Zum Beispiel, als Anderegg nach dem Berner Weihnachtsmarkt fragt. Das Grüne Bündnis (GB) lehnt die Tourismusattraktion aus antikommerzieller Sicht ab, weder Memeti noch Shala stören sich aber aus religiöser Perspektive daran. Was sich Anderegg notiert, sind vor allem Aussagen, die sich mit ihren Ansichten decken. Wenn der 31-jährige Shala sich über Vandalismus beschwert und strengere Erziehung im Elternhaus fordert, schmunzelt sie – der Notizblock bleibt liegen. 

 «Mir geht es nicht um Religion»

Wieso sucht Anderegg gerade als linke, feministische Politikerin die Nähe zu religiösen Menschen? «Mir geht es nicht um die Religion, sondern um deren soziale Funktion in der Stadt, welche die Gemeinschaften im Zusammenleben einnehmen», sagt Anderegg. Dort seien oft Bevölkerungsgruppen aktiv, welche in der Politik oft untervertreten seien und ungehört blieben. Und genau da wolle sie nun hinhören.

Reicht es für eine feministische Politikerin, beim Besuch in der Moschee einfach hinzuhören? Auch in Bern werden beispielsweise junge Frauen von ihren Familien unter Druck gesetzt, Kopftuch zu tragen. Dem will Anderegg mit einer konsequenten Grundrechtshaltung entgegenwirken. Sie setzt auf niederschwellige Hilfsangebote, offene Quartier- und Jugend­arbeit – alles, um «interkulturelle Aushandlungsräume» zu schaffen, wie sie auf Rückfrage sagt.

Beim Treffen in der Moschee spricht sie lieber über Armutsbekämpfung und Integration. Gleichstellung, Klima und Kulturförderung werden nicht besonders ausführlich diskutiert. Gerade in Bezug auf ihr Engagement für feministische und LGBTIQ-Themen überrascht das. Doch sie gehe an diese Treffen nicht mit einer Agenda hin, sagt Anderegg: «Es geht mir um die Anliegen der Vereine und Menschen, und nicht darum, ihnen meine Haltung aufzudrücken.»

Gestützt auf das, was sie bei ihren Besuchen erfährt, will Anderegg ihr Wahlprogramm für die Gemeinderatswahlen im November erarbeiten und schärfen. Viele der im Haus der Religionen angesprochenen Anliegen werden allerdings auf kantonaler oder gar nationaler Ebene geregelt, etwa die Forderung nach einer Vereinheitlichung der Anstellungskriterien für Imame. 

Minigolf und Hebammen

So andersartig die «Vorkampagne» erscheinen mag: Anderegg selbst nimmt Rücksicht auf unterschiedliche Befindlichkeiten und ist auch sonst nicht freier und unabhängiger als andere Kandidierende. So will sie sich auch zu den propalästinensischen Unibesetzungen – einem politischen Topthema der letzten Wochen – nicht ­äussern, da dies aufgrund ihrer Anstellung bei der Univerwaltung in der Abteilung für Chancengleichheit nicht ihre Rolle sei.

Dass das GB mit einer Vorkampagne, wie man sie in der Stadtberner Politik bisher nicht kennt, den Wahlkampf beginnt, liegt wohl im Wesentlichen an der Ausgangslage. Nachdem sich die Mitte-rechts-Parteien auf ein gemeinsames Bündnis geeinigt haben, droht Rot-Grün-Mitte (RGM) einen Sitz zu verlieren. Weil Ursina Anderegg, anders als ihre rot-grünen Mitstreitenden, weder den Bonus der Bisherigen noch Popularität aus der nationalen Politik mitbringt, könnte es den Sitz des GB treffen. Also gilt es, frühzeitig Netzwerke zu aktivieren. Das deckt sich mit dem Selbstverständnis des GB als soziale Bewegung ebenso wie mit der Biografie Andereggs: Pfadi, feministische Kollektive, Förderverein der Berner Seifenkistenrennen. 

Die gebürtige Aargauerin ist sich bei «Ursina hört zu» auch für kleine Gruppen nicht zu schade. So ist das mehrheitlich rot-grüne Bern letztlich schweizerisches Vereinsland, nur dass hier Politiker nicht beim Schwing-, ­Jodel- oder Turnverein anbandeln. Auf Andereggs Besuchsliste stehen stattdessen nebst vielen anderen der Minigolf-Club, der Hebammenverband, die Beratungsstelle für Sans-Papiers, der Frauenbasketballclub BC Femina, der Klimastreik und die Bümplizer Chilbi. Es sind viele Kleinstvereine darunter – und vor allem viele Heimspiele: Wenn Anderegg der Wirtschaft zuhören will, trifft sie den mitte-linken «Gewerbeverein».

«Ursina hört zu»: Womöglich wäre «Ursina zeigt sich» der treffendere Name für die Kampagne. Offen bleibt, wie weit sie damit über ihre eigenen Zielgruppen hinaus sichtbar wird. 


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