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Gewöhnungsbedürftige Ästhetik beim Bahnhof in Vechigen
Nach intensiven Baujahren wird Vechigen bald etwas zur Ruhe kommen. Kritiker und Kritikerinnen gewöhnen sich an die ästhetischen Tatsachen, die Finanzverwaltung freut sich über Mehreinnahmen und auch die Schule ist bereit für die Kinder, die den jungen Paaren in den Neubauwohnungen wohl schon bald geboren werden.
Was am RBS-seitigen Dorfeingang von Boll, Gemeinde Vechigen, in den letzten Jahren gebaut wurde, ist gewaltig. Mit einer Begradigung der Bahnlinie wurde der Dorfkern um ein grosses Baufeld grösser. Wo bis vor wenigen Jahren Pferde weideten und ein schnuckliges altes Bahnwärterhäuschen stand, sind sechs viergeschossige Wohnblöcke mit über 90 Wohnungen in die Höhe gewachsen – der Bollpark Süd. Nun stehen die Bauarbeiten vor dem Abschluss und damit auch ein umfassender Bauboom in Vechigen.
Nicht allen machten die Baupläne der Gebäudeversicherung Bern GVB damals Freude. Einerseits gab es Stimmen, denen Vechigen mit diversen bereits abgeschlossenen neuen Wohnbausiedlungen ganz allgemein zu schnell wuchs. Andere kritisierten besonders die Architektur des Bollparks Süd, empfanden die Flachdächer als störend und so gar nicht passend zum bestehenden Dorf.
«Edelghetto» beim Bahnhof
Zum Beispiel der Utziger Autor Martin Rindlisbacher. Er äusserte sich unter anderem mit einem satirischen Vortrag an einer Gemeindeversammlung und fasste die ästhetischen Ängste seiner Dorfmitbewohnenden in Worte. «Flat Manhattan» nannte er das Projekt. Und ein «ästhetisch genormtes Edelghetto».
So richtig glücklich ist er auch jetzt, wo die Häuser gebaut sind, nicht. «Mir gefällt es nicht. Ich bekomme dort ein beengendes Gefühl.» Aber natürlich werde er sich daran gewöhnen, so funktioniert der Mensch. Schade findet er einige Änderungen gegenüber dem ersten Vorprojekt, aufgrund dessen die Gemeindeversammlung seinerzeit der Bauzone zugestimmt hatte. Insbesondere habe damals alles viel grüner ausgesehen, etwa mit Bäumen beidseits der neuen Bahnhofstrasse anstatt nur auf einer Seite.
Um den Vorbehalten gegenüber der in den letzten Jahren gängigen Bauweise mit gleichförmigen Fassaden zu begegnen, haben die sechs Neubauten ganz unterschiedliche Fassaden. Da findet sich Holz, Beton, Klinker, Putz und Metallblech; ein Haus hat bewusst ein Sattel- anstatt ein Flachdach. So wolle man dem dörflichen Charakter der Umgebung Rechnung tragen, hiess es seitens der Bauherrschaft. Dadurch findet wohl jeder Betrachter und jede Betrachterin der Wohnsiedlung eine Ecke, die gefällt. Aber es finden auch alle eine Ecke, die besonders stört. Bei Rindlisbacher ist dies die Blechfassade, die bei sonnigem Wetter die Augen blende, eine Kritik, die er von verschiedenen Seiten gehört habe.
«Der perfekte Ort»
«Über Stil kann man immer verschiedener Meinung sein», sagt dazu Gemeindepräsidentin Sibylle Schwegler-Messerli. Sie könne gut verstehen, wenn man das Grün vermisse, das sich früher wie eine Bucht ins Dorf gewölbt hat. «Natürlich war das schön, als hier noch Pferde weideten. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass diese grosse Veränderung manche Leute schmerzt.» Gleichzeitig sei es halt der perfekte Ort für innere Verdichtung, voll erschlossen und mit dem ÖV vor der Tür.
Dasselbe gelte auch für die weitgehend fertiggestellte Wohnbausiedlung Diessenberg, weiter oben am Hang des Ortsteils Utzigen. Auch diese Siedlung sorgte bei ihrem Bau für Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung. Die markanten Terrassenbauten sind auffällig, gemunkelt wird, sie seien bei guter Sicht sogar vom Stockhorn aus zu sehen.
«Hier konnte man vorher wirklich nur die Schafe weiden lassen, so steil, wie das ist.» Auch hier könne man über den Stil streiten. Der Ort aber, der sei ideal für innere Verdichtung. Darüber sei man sich im Dorf auch einig, soweit sie das als Gemeindepräsidentin beurteilen könne. In den Diskussionen gehe es vor allem um Fragen der Ästhetik.
Dass in der Agglomeration, besonders entlang der S-Bahn-Linien, gebaut wird, ist eigentlich nichts Besonderes. In der Gemeinde Vechigen aber geschah in sehr kurzer Zeit sehr viel. Anfang der Zehnerjahre zonte die Gemeinde mit einer umfassenden Ortsplanungsrevision ein, was nach damaliger Gesetzeslage möglich war – gut zehn Jahre später sind die Baufelder fast ausnahmslos bebaut. Das sei wohl eher schnell passiert, so Schwegler, aber auch sorgfältig. So blieb der teils befürchtete Verkehrskollaps aus und auch die Bauarbeiten rund um den Bahnhof verliefen unfall- und weitgehend reibungsfrei. Wohnten Ende 2018 noch 5290 Menschen in der Gemeinde Vechigen, waren es Ende 2023 schon 5850, die Neuzuzüger und Neuzuzügerinnen im Bollpark Süd werden noch dazukommen.
Die Nachfrage nach den Wohnungen ist gross. Fast alle sind verkauft und vermietet. Laut der GVB gingen die Eigentumswohnungen, die rund die Hälfte ausmachen im Bollpark Süd, vorwiegend an ältere Paare, die grösseren an Familien. Bei den Mietwohnungen seien die Generationen durchmischter, hier hätten ebenfalls viele über 60 unterschrieben, weil sie ihre Wohnfläche reduzieren wollten, aber auch junge Paare zwischen 25 und 35 Jahren würden einziehen. Die erste Etappe von 53 Wohnungen ist bereits bezogen, für 38 weitere Wohnungen ist der Einzugstermin am 1. August.
Kinder sind bisher nicht sehr viele zugezogen, bei den jungen Paaren dürften diese aber noch folgen. Um den Schulraum müsse sich deswegen niemand Sorgen machen, sagt Gemeindepräsidentin Schwegler-Messerli. Die Schulraumplanung wurde sinnvollerweise parallel zur Ortsplanung angepackt. Mit der Sanierung der Oberstufe und der Erweiterung der Schule Stämpbach ist die Gemeinde so weit parat, mit dem geplanten Ersatz des Kindergartens Sinneringen (der «Anzeiger» berichtete) wartet sie zu, bis der Bollpark Süd fertig bezogen und der Vechiger Bauboom damit mehrheitlich abgeschlossen ist. Über die Jahre rechne man damit, dass rund 10 Prozent der Menschen in Vechigen schulpflichtig sind, sagt Gemeindeschreiber Beat Brunner. Die letzten Zahlen bestätigen diese Annahme. Im Schuljahr 2018/2019 gingen in Vechigen 527 Kinder zur Schule, im laufenden Schuljahr sind es 574 Schüler und Schülerinnen.
Geldsegen für die Gemeinde
Finanziell dürfte die Gemeinde vom Bauboom nur profitieren. Seit 2018 sind die Einnahmen durch die Einkommenssteuern natürlicher Personen um 2,8 Millionen Franken auf 14,1 Millionen im 2023 gestiegen und auch für das nächste Jahr prognostiziert die Verwaltung einen Anstieg. Da die bebauten Gebiete bereits gut erschlossen waren, beeinflussen sie die Finanzen auf der Ausgabenseite kaum.
Noch verströmt der Bollpark Süd Baustellenatmosphäre. Die Umgebung wirkt noch gar kahl, die an der Strasse gepflanzten Bäume sind noch klein und dünn, zwischen den Häusern stehen noch Baumaschinen und Baumaterial. Doch das werde sich bald ändern, so Schwegler-Messerli. «Schon nur, dass ein Teil der Balkone nun möbliert ist, sorgt für eine belebtere Stimmung.» Sie ist überzeugt: «Wir alle werden uns an den Bollpark gewöhnen.» Auch Heinz Jordi, Präsident der örtlichen FDP, konnte für eine Stellungnahme erreicht werden. Auch er müsse sich an die neuen Fassadenkonstruktionen noch gewöhnen. Wichtig sei ihm, dass man die Menschen, die in die Wohnungen einziehen, willkommen heisse, und er hoffe, dass sie sich gut integrierten. «Es wäre schön, wenn wir einige davon als Mitglieder für unsere Vereine gewinnen könnten. Auf diese Weise könnten wir das Gemeindeleben voranbringen.» Ins selbe Horn stösst SVP-Präsident Daniel Banga: «Jetzt muss man auf die Leute zugehen und ihnen zeigen, was wir an Vereinen und Sportklubs haben.» Dass sich das Wachstum lohne, sehe man auch an der Gemeinderechnung. Erstmals seit 2017 wurden dank den Neuzuzügen auf dieses Jahr die Steuern gesenkt.