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Wem gehört der Bahnhofplatz?
Die Randständigen-Szene unter dem Baldachin ist in den letzten Jahren gewachsen. Die SVP fordert mehr Polizeipräsenz und Wegweisungen. Die Offene Kirche Bern und die Gassenarbeit befürchten hingegen eine Verdrängung von marginalisierten Menschen.
Wer in die Stadt Bern mit dem Zug einreist, gelangt über den breiten Zebrastreifen auf den Bahnhofplatz. Der Platz ist eingerahmt von Heiliggeistkirche und Loeb, der Glasbaldachin schützt Wartende vor Witterung. Zu fast jeder Tageszeit passiert man hier Menschen, die nicht gleich wieder weitergehen, sondern die bleiben: In einer Gruppe im Bahnhofseingang oder alleine auf einer der Bänke auf dem Platz.
So auch der 67-Jährige, der sich als Lupo vorstellt. Ihn habe es im Verlauf des Tages hier angetrieben, erklärt er. Jetzt gönne er sich eine Auszeit in der Abendsonne. Er ist nicht regelmässig hier, auf den Holzbänken an der Westseite der Heiliggeistkirche, geniesst aber jetzt die Gespräche, die aus dem Beisammen-Sitzen entstehen. «Ich bin z’fride hier und mit dem Leben gerade.»
Nicht alle nehmen den Bahnhofplatz so positiv wahr. Teilweise wird befürchtet, dass die Sitzbänke zu viele Menschen anziehen, deren Präsenz andere an diesem zentralen Ort als störend empfinden. Wie steht es also tatsächlich um den Platz?
Sitzbänke und Kirchenkaffee
Die Bank, auf der Lupo derzeit verweilt, und die restlichen auf dem Bahnhofplatz sind schon lange Politikum in der Stadt Bern. Aus Angst vor Szenenbildung wurden 2013 noch die letzten Sitzplätze in Bahnhofsnähe abgeschraubt. Einige Jahre später folgte dann der Kurswechsel: Seit Sommer 2019 stehen 22 Bänke aus hellem Holz um und auf dem Platz. Der Gemeinderat bewilligte dafür ein Budget von einer Viertelmillion Franken. Während des Lockdowns, knapp ein Jahr später, wurden die Bänke gesperrt oder abgebaut. Das Kernstück der Aufwertung, die Rundbank unter dem Baldachin, kam auch nach der Pandemie 2021 nicht mehr zurück. An ihrer Stelle stehen aktuell zwei voneinander getrennte Sitzbänke.
«Ob es nun Bänke gibt oder nicht, hat nur einen kleinen Einfluss, wie viele Personen sich auf dem Platz aufhalten», so Pfarrer Andreas Nufer der Heiliggeistkirche Bern. Es gebe zu wenig Orte, wo Menschen mit psychischen Problemen, Suchterkrankungen oder «schräge Vögel» einfach sein könnten. Seit zwölf Jahren erlebt er den Platz täglich. «Man kennt sich hier und kümmert sich umeinander. Ich habe viele der Leute auch einfach gern.» Er beobachtet, dass wegen Kürzungen in Institutionen, sich Menschen aus dem ganzen Kanton in der Stadt sammeln. Corona habe da zu einer spürbaren Zunahme geführt. Die interreligiös getragene «Offene Kirche Bern» in der Heiliggeistkirche sieht sich verpflichtet, randständige Menschen aufzufangen. Seit über zwanzig Jahren bewirtschaftet sie etwa die kostenlose Cafeteria in der Barockkirche. Auch hier spürt man die grössere Nachfrage: Man muss doppelt so viel Kaffee einkaufen.
Unsicherheitsempfinden
Durch seine hohe Publikumsfrequenz und zentrale Lage wird der Perimeter Bahnhof wohl immer ein Sammelbecken bleiben – und Schwerpunkt der polizeilichen Arbeit. Für Reto Nause, Sicherheitsdirektor der Stadt, ist klar: «Je grösser Menschenansammlungen sind, desto eher entstehen Probleme.» Um diesen entgegenzuwirken, befürwortet er Vorgehen, wie das der SBB, im Bahnhofseingang klassische Musik zu spielen.
Thomas Fuchs, Präsident der Stadtberner SVP, reicht das nicht aus. Gerade zu den Bänken unter dem Baldachin findet er, dass man da nicht den ganzen Tag verbringen müsse. «Die Polizei soll vermehrt Kontrollen machen und diese Menschen wegweisen.» Seien die Sitzplätze dauerbesetzt, dann würden sie quasi «missbraucht» und verlören ihren Sinn. Im öffentlichen Raum gehe es ja auch nicht, wenn jemand sein Zelt aufstellen würde, argumentiert er.
Im Kanton Bern hat die Polizei das Recht, Wegweisungen auszusprechen. Die Anfrage, wie viele das jährlich im Perimeter Bahnhof sind, wird nicht beantwortet: Es würden aktuell keine lokalspezifischen Statistiken erstellt. Jedenfalls wurden im Jahr 2019 im Raum Bahnhof eine Fernhaltung und im Folgejahr 56 Wegweisungen ausgesprochen.
Nause ergänzt: «Die Randständigen-Gruppierungen sind nicht zwingend ein Sicherheitsproblem. Vielmehr sind sie ein Problem fürs individuelle Sicherheitsempfinden von vielen Menschen.» Und dies müsse von der Polizei auch beachtet werden.
Gerade wenn es ums subjektive Sicherheitsempfinden geht, verfolgt Eva Gammenthaler der kirchlichen Gassenarbeit einen anderen Ansatz. Sie fordert, dass man sich fragt, wieso man gewisses Verhalten mit Bedrohung verbindet und welche Vorurteile dahinterstehen. Und wenn man sich trotzdem unwohl fühlt: «So habe ich als Passantin das Privileg, mich zu entfernen. Ich habe andere Orte, wo ich hingehen kann.»
Bahnhofplatz als Wohnzimmer
Für Gammenthaler macht die Bahnhofsumgebung seit sieben Jahren Teil ihres Arbeitsplatzes aus. Die kirchliche Gassenarbeit ist aufsuchend, das heisst, dass sie ihre Klientel grösstenteils vor Ort trifft. Ihre «Klientel», das sind Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Gasse. Und für sie sei der öffentliche Raum quasi ihr Wohnzimmer. Gammenthaler kritisiert, dass dieser Raum aktuell durch die EM-Pop-ups stark eingeschränkt werde.
Öffentliche Plätze in kommerzielle Orte umzuwandeln, sei Verdrängung. So wie es auch abgeschrägte Sitzflächen und Wegweisungen seien, erklärt Gammenthaler im Büro der Gassenarbeit. Wenn Menschen, welche als störend wahrgenommen werden, verdrängt würden, dann werde einerseits die Problematik nicht gelöst, sondern verschoben. Anderseits sinke durch die Unsichtbarkeit auch das Bewusstsein für andere Lebensrealitäten. «Mit Corona wurde diese Tendenz verstärkt. Und nicht, dass unbedingt mehr Menschen den Bahnhofplatz nutzen.» Messbar ist auf jeden Fall die Situation in den drei Berner Notschlafstellen: «Sie sind das ganze Jahr über voll, das war vor sieben Jahren noch nicht so.»
«Ruhige Stadtoase»
Das Berner Generationenhaus gegenüber dem Baldachin ist ein zentrumsnaher Ort ohne Konsumzwang. Till Grünewald, Gesamtleiter der Institution der Burgergemeinde, erklärt, dass man sich als «Haus für alle» verstehe. «Im Gegensatz zum lebhaften Bahnhofplatz sind wir eine ruhige Stadtoase.» Man habe wenig Berührungspunkte. Was aber vorkomme, seien Littering und Urinieren ums Burgerspital. Zu Szenenbildungen sei es bisher nicht gekommen, unter anderem, weil die soziale Kontrolle durch Besuchende bewerkstelligt sei. Falls es zu störendem Verhalten komme, suchten Mitarbeitende oder der Sicherheitsdienst das Gespräch.
«Eine Welt ohne Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum ist utopisch», sagt Gammenthaler. Aus ihrer Sicht ist der Bahnhof keine Problemzone, sondern vielmehr ein Ort, den viele Menschen nutzen und gestalten – da gebe es immer Meinungsverschiedenheiten. Diese gelte es auszuhandeln, und hier, betont sie, würden oftmals nicht alle Betroffenen einbezogen.
Einer dieser «Betroffenen» ist Mikias Makonin. Er sitzt einige Meter neben dem eingangs erwähnten Lupo und einer Reisenden, die ihren Zug verpasst hat. Er ist jeden Tag hier. Trotz des schwülen Wetters trägt der 37-Jährige eine rote Daunenjacke. Er hatte psychische Probleme und vor einigen Jahren ein Burn-out. Da er seit einem Jahr im Passantenheim wohnt, verbringt er tagsüber viel Zeit draussen. Auf dem Bahnhofplatz fühle er sich am wohlsten, wie er sagt. Einerseits, weil er die Kirche im Rücken oder Blickfeld habe, und das ihm Sicherheit gebe, andererseits, weil immer Menschen in der Nähe seien: «Das erzwingt Anstand und Respekt voreinander.»
Die Abendsonne spiegelt sich im Glasbaldachin, Passanten gehen vorbei. Makonin steckt sich eine Zigarette an. Mit dem Platz, so wie er jetzt ist, ist er zufrieden: «Es ist schön hier. Und die Leute, die hier sind, sind gerne hier.»