Anzeige
Zwischen Regulierung und Unternehmertum
Berner Bauern sind mit der Gesamtsituation unzufrieden und protestieren nun auch auf der Strasse. Die Hauptforderung: höhere Preise für ihre Produkte.
Aber eigentlich geht es um mehr als nur ums Geld.
Freitagabend, 20 Uhr, beim Tavel-Denkmal in Rüeggisberg. Mehrere Hundert Personen, vorwiegend junge Bauernfamilien, haben sich versammelt. Umkreist werden sie von rund 100 Traktoren. Einzig ein Scheinwerfer spendet Licht, was die düstere Atmosphäre noch zusätzlich unterstreicht. Auf einem behelfsmässigen Podium, bestehend aus ein paar aufeinandergestapelten Paletten, steht ein Redner und ruft die Anwesenden zum Zusammenhalt und zum friedlichen Kampf für ihre Interessen auf.
Die Bauernproteste, die vor Monaten in Deutschland und Frankreich ihren Anfang nahmen, sind endgültig in die Schweiz übergeschwappt. In der Westschweiz wird bereits zu einer «Bauernrevolte» aufgerufen. In der Deutschschweiz fanden an diesem Freitagabend vielerorts solche Mahnwachen wie in Rüeggisberg statt.
Der Schweizerische Bauernverband hat zwar eine Petition lanciert, verhält sich aber relativ zurückhaltend. Man will es sich mit der Öffentlichkeit schliesslich nicht verscherzen. So stehen die Verhandlungen um die Produzentenpreise an. Und im Herbst kommt die Biodiversitäts-Initiative zur Abstimmung, welche konventionellen Bauern Sorgen bereitet.
Auf den Zug aufspringen
Doch geht es den Bauern tatsächlich so schlecht, wie sie sagen? Oder handelt es sich bei den Protesten letztlich nur um typisches Bauern-Gejammer auf hohem Niveau?
Patrick Dümmler, Forschungsleiter bei Avenir Suisse, gilt als einer der renommiertesten Landwirtschaftsexperten der Schweiz. Und er hat eine klare Antwort auf diese Fragen: «Den Schweizer Bauern geht es mitnichten so schlecht, wie gerade der Eindruck erweckt wird», sagt er. «Die Landwirte versuchen einfach, die Stimmung für ihre Zwecke zu nutzen, die durch die Proteste im Ausland geschaffen wurde.»
Und er hat gute Argumente für seine These. So ist die Einkommensentwicklung bei den Schweizern Bauern beileibe nicht so schlecht wie suggeriert, sogar besser als bei nicht-landwirtschaftlichen Haushalten. 2021 habe das Gesamteinkommen pro Hof immerhin rund 111 000 Franken betragen. «Da scheint mir auch der teuerungsbedingte Einkommensverlust von 700 Franken pro Jahr und Hof im Jahr 2022 verkraftbar», so Dümmler. Dazu komme, dass viele Bauern durchaus vermögend seien. Viele besässen Hof und Land, was spätestens nach der Pensionierung verpachtet oder verkauft werden könne. «Es hat sogar Multimillionäre unter den Bauern», sagt Dümmler.
Hoher Aufwand, wenig Geld
Allerdings, es gibt auch informierte Fachpersonen, die es diametral anders sehen. Sandra Contzen ist Professorin für Agrarsoziologie an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaft (BFH-HAFL) in Zollikofen. Sie hat zur Lebenssituation von Bauernfamilien in der Schweiz geforscht. «Bauern und Bäuerinnen haben einen sehr hohen Aufwand und verglichen mit anderen Branchen dennoch ein tiefes Einkommen», sagt sie.
Ihre Forschung hat etwa ergeben, dass die Armutsquote bei Bäuerinnen und Bauern zwar zwischen der von Selbstständigen mit 1–4 Mitarbeitenden sowie solchen ohne Mitarbeitenden liegt. Allerdings ist das Risiko, in die Armut abzurutschen, deutlich höher als etwa bei diesen Vergleichsgruppen. Rund ein Viertel der Landwirte und Landwirtinnen verdiene weniger als 60 Prozent eines mittleren Schweizer Einkommens, sagt Contzen. Die Wohnkosten, die bei Bauern meist weniger ausmachen als bei Mieterinnen und Mietern, und weitere Vergünstigungen sind dabei schon abgezogen.
Wieso reicht es nicht?
Zwei Experten, zwei Meinungen. Unbestritten ist aber, dass die Unterschiede zwischen den Bauern gross sind. Insbesondere zwischen Tal- und Bergbauern, aber auch zwischen Grossbetrieben und Kleinbetrieben.
Angesichts der stattlichen Summen, welche die Schweiz für die Landwirtschaft ausgibt, ist das durchaus überraschend (siehe Cotext). Wieso reichen Direktzahlungen in Milliardenhöhe und durch Zölle und Einfuhrbeschränkungen künstlich hochgehaltene Preise nicht aus, damit die Bauern locker über die Runden kommen?
Kritiker monieren, dass sich viele Bauern zu wenig an den Bedürfnissen des Markts orientieren, sondern lieber «gäng wiä gäng» wirtschaften. Ausserdem – und dem wird sogar von einzelnen Bauern einen Funken Wahrheit zugesprochen – kauften Schweizer Bauern die weltweit teuersten Traktoren und verfügten über die modernsten Häuser im internationalen Vergleich.
Fragt man die protestierenden Bauern, werden etwa auf die hohen Investitionskosten, den hohen administrativen Aufwand und gestiegene Anforderungen an ökologische Anbauweisen hingewiesen. Das werde mit den tiefen Preisen, die sie für ihre Produkte erhielten, viel zu wenig abgegolten. Entsprechend fordern sie etwa höhere Produzentenpreise, weniger Auflagen, einen Abbau der Bürokratie, mehr Planungssicherheit und weiterhin hohe Direktzahlungen.
4000 Seiten Bürokratie
Dümmler von Avenir Suisse hat durchaus Verständnis für einen Teil der Forderungen. Insbesondere sei die Marktmacht von Coop und Migros in der Schweiz immens. «Die Abhängigkeit der Bauern von den beiden Detailhändlern ist gross», sagt er in Bezug auf die Produzentenpreise.
Auch beim Abbau von Regulierungen sieht er Potenzial. Es sei zwar legitim, so Dümmler, wenn der Staat Ziele etwa in Sachen Ökologie vorgebe. Er könnte den Bauern aber mehr Spielraum bei der Frage zusprechen, wie diese Ziele zu erreichen seien. «Sämtliche Richtlinien, Verordnungen und Weisungen ergeben etwa 4000 Seiten.»
Allerdings, so führt Dümmler weiter aus, sei ein Grossteil der Bürokratie eine direkte Folge der bäuerlichen Forderungen nach Direktzahlungen. «Wenn man will, dass man auch für ein Lama Direktzahlungen erhält, braucht es entsprechend einen weiteren Abschnitt in einer Verordnung, der die Details regelt», sagt der Landwirtschaftsexperte.
Das Dilemma der Bauern
Damit bringt Dümmler das Dilemma der Bauern – und die Zweischneidigkeit der Bauernproteste – ziemlich auf den Punkt. Sie fordern einen geschützten Markt und Unterstützungsleistungen, möchten aber von Vorgaben und Administration verschont bleiben. Doch unternehmerische Freiheit und finanzielle Sicherheit gibt es selten in Kombination.
Vielleicht liegt im Zerriebensein zwischen Unternehmertum und staatlicher Abhängigkeit sogar der Kern der bäuerlichen Unzufriedenheit. Zu diesem Schluss kam auch Agrarsoziologin Contzen in ihren Forschungsarbeiten. Es sei ein zentraler Aspekt des bäuerlichen Ethos, von niemanden abhängig zu sein, führt sie aus. «Viele Bauern verstehen sich als Unternehmer, möchten frei sein, stecken aber im Korsett der Direktzahlungen», sagt sie.
In den Interviews, die sie mit Landwirtinnen und Landwirten geführt habe, sei dieses Element viel stärker betont worden als die finanzielle Situation. «Viele Bauern und Bäuerinnen fühlen sich gar nicht arm, obwohl sie es objektiv sind.» Die Bauern litten aber richtiggehend darunter, dass sie ohne Direktzahlungen nicht existieren könnten. Auch die Initiativen, die etwa einen Verzicht auf Pestizide oder Massentierhaltung fordern, verstünden die Bauern als fehlende Wertschätzung. «Das nagt an ihrem Selbstwertgefühl», sagt Contzen.
Schlechte Aussichten
Dümmler plädiert dafür, die Bauern vermehrt wie Unternehmer und weniger wie Staatsangestellte zu behandeln. Die Direktzahlungen würden damit nicht zwingend infrage gestellt, sehr wohl aber der Grenzschutz mit Zöllen und Einfuhrbeschränkungen. «Eine Abschaffung des Grenzschutzes würde einen Prozess auslösen, der zuerst schmerzhaft wäre», sagt er. Allerdings würde dadurch auch der vorhandene unternehmerische Geist im Bauernstand freigesetzt, der aktuell durch die Überregulierung unterdrückt werde. «Mittelfristig würde die Schweizer Landwirtschaft gestärkt daraus hervorgehen.»
Allerdings wäre damit die Umweltproblematik ebenso wenig gelöst wie der Forderung nach besseren finanziellen Lebensbedingungen Folge geleistet. Nach wie vor verursacht die Landwirtschaft nach Schätzung von Avenir Suisse Umweltkosten in der Höhe von 7,6 Milliarden Franken pro Jahr. Laut der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL gibt es in der Schweiz rund 160 Subventionen, welche umweltschädliches Verhalten fördern.
Selbst wenn der geforderte Abbau dieser Subventionen sozialverträglich gestaltet werden sollte, dürfte dies den administrativen und sonstigen Aufwand der Bäuerinnen und Bauern weiter erhöhen. Eine Lösung für die Unzufriedenheit bei den Landwirtinnen und Landwirten in Rüeggisberg und andernorts ist entsprechend nicht in Sicht.
Das Privilegienregister Landwirtschaft
Die Schweiz lässt es sich einiges kosten, um die hiesige Landwirtschaft am Leben zu erhalten. Die Direktzahlungen machen dabei nur den sichtbarsten Teil aus. Die liberale Denkfabrik Avenir Suisse hat eine Liste aller «Privilegien» zusammengetragen, von denen die Landwirtschaft profitiert. Geschätzte Gesamtkosten für die Volkswirtschaft: 20,5 Milliarden Franken pro Jahr. Das sind laut Avenir Suisse die wichtigsten Kostentreiber:
- Zahlungen von Bund und Kantonen: Bund und Kantone geben zusammen 4,7 Milliarden Franken für die Landwirtschaft aus. Der grösste Teil davon, nämlich 2,8 Milliarden Franken, sind Direktzahlungen. Dazu kommen Gelder für Produktions- und Absatzförderung sowie für Strukturverbesserung. Bauernverbände monieren, dass sich die Zahl seit Längerem nicht erhöht hat. Allerdings sinkt die Zahl der Betriebe, sodass die Ausgaben pro Betrieb zunahmen.
- Grenzschutz: Durch Zölle und Einfuhrbeschränkungen verteuern sich die Lebensmittel. Laut OECD bezahlen Konsumentinnen und Konsumenten 3,1 Milliarden Franken mehr, als wenn der Grenzschutz abgeschafft würde.
- Umweltkosten: Intensiv betriebene Landwirtschaft geht zulasten der Biodiversität und zieht Stickstoff- und Treibhausgasemissionen mit sich. Avenir Suisse schätzt die Umweltkosten auf jährlich 7,6 Milliarden Franken.
- Verpasste Opportunitätskosten Export: Das Festhalten am Grenzschutz verhindert laut Avenir Suisse den Abschluss von Freihandelsabkommen. Die Denkfabrik schätzt, dass der Schweiz so Exporteinnahmen in der Höhe von 4,5 Milliarden Franken pro Jahr entgehen.