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«Der Kanton will einfach zu viel»

Defizite im dreistelligen Millionenbereich, Mobbingvorwürfe und Rücktrittsforderungen: Die Berner Insel-Gruppe kommt nicht zur Ruhe. Damit steht sie nicht alleine da. Gesundheitsökonom Heinz Locher spricht über die Schweizer Spitalkrise, falsche Erwartungen und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen.

| Léonie Hagen | Wirtschaft
Die Versorgung am Inselspital sei akut nicht gefährdet, sagt Heinz Locher, aber ihre Zukunft. (Symbolbild: Unsplash)
Die Versorgung am Inselspital sei akut nicht gefährdet, sagt Heinz Locher, aber ihre Zukunft. (Symbolbild: Unsplash)

Von Bern bis St. Gallen vermelden die Zentrumsspitäler Millionenverluste im dreistelligen Bereich. Überall ist die Rede von einer Spitalkrise. Heinz Locher, Sie verfolgen und begleiten die Schweizer Gesundheitspolitik seit Jahrzehnten. Wie schlimm ist die Situation wirklich? 

Die Schweizer Spitäler sind chronisch unterfinanziert, sie werden seit Jahren ausgehungert. Die Tarife sind zu tief, es fehlen Abschreibungen für Reinvestitionen. Das sagen wir seit Jahren. Jetzt gibt es erstmals Konsequenzen – und die sind nur die Spitze des Eisbergs. 

Gerade die Insel-Gruppe gibt sich trotz ihres Defizits von fast 113 Millionen Franken zuversichtlich. Gemäss Direktion geht das Minus auf grosse Investitionen zurück, die nun abgeschlossen seien. Kann man da wirklich von einem strukturellen Problem sprechen?

Die Insel steht vielleicht besser da als die Spitäler, die solche Investitionen noch tätigen müssen. Damit entkommt sie der systemischen Spitalkrise aber nicht. Selbst ohne die Tariffragen hat sie immer noch hauseigene Probleme wie den Umgang mit dem Personal. Die Insel hat offensichtlich ein Führungsproblem, das sich nicht von heute auf morgen lösen lässt. 

Die Führungsetage der Insel-Gruppe scheint das anders zu sehen. Der zuständige Regierungsrat Pierre Alain Schnegg sagt, Personalführung werde das nächste grosse Projekt der Gruppe. 

Personalführung ist kein Projekt, sondern eine Haltungsfrage. Eine anonyme Beschwerdestelle nützt wenig, wenn man mit einer Meldung die Kündigung riskiert. Das Vertrauen in die Führung ist nun einmal weg. Das kann man noch lange schönreden. Aber am Ende zeigen diese Äusserungen nur, dass die Führungsorgane den Ernst der Lage noch nicht begriffen haben. An diesem Punkt können der Verwaltungsrat und die Direktion der Insel-Gruppe nur noch einen Dienst erweisen: ihren Rücktritt.  

Die Führung räumt ein, dass der Umgang mit dem Personal angesichts der grossen Investitionen und Projekte der letzten Jahre in den Hintergrund gerückt sei. Ist das nicht legitim?

Aber die hat sie ja selbst geplant! An sich mag jedes dieser Grossprojekte legitim sein. Aber alles gleichzeitig zu machen, ist nicht Schicksal, sondern schlecht organisiert. Man hätte mitdenken können, dass jedes dieser Projekte immer dasselbe Personal zusätzlich belastet. Mal abgesehen davon, dass die Insel und der Kanton einfach zu viel wollen. 

Wie meinen Sie das? 

Ich habe schon vor 15 Jahren ein Referat vor dem damaligen Verwaltungsrat der Insel-Gruppe gehalten. Schon damals habe ich ihre Entwicklungsstrategie mit einem Känguru verglichen: Sie wollten grosse Sprünge mit einem kleinen Beutel. Sowohl die Insel als auch der Kanton wollen Projekte, die sie sich eigentlich nicht leisten können.  

heinzlocher

Zur Person
Der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher gilt als fundierter Kenner des Schweizer Gesundheitssystems. Mit diesem beschäftigt er sich seit den 1970er-Jahren; erst beim Schweizerischen Roten Kreuz, dann als Delegierter des Berner Regierungsrats für Spitalplanung, als Generalsekretär der Berner Gesundheitsdirektion und als Partner des Prüf- und Beratungsunternehmens Pricewaterhouse Coopers. Von 2001 bis 2020 war er selbstständiger Berater im Gesundheitswesen, insbesondere in Regulierungs- und Fusionsfragen. Heute engagiert er sich als Mitgründer der Organisation Careathome für selbstbestimmte Lebensgestaltung im Alter. (arb)

Bern will sich als Universitätsstandort etablieren – Sie können nicht ernsthaft gegen gute Forschung sein. 

Wir müssen realistisch bleiben: Von den fünf Standorten in der Schweiz werden sich genau zwei entwickeln, Lausanne und Zürich, wegen ihrer Wirtschaftslage und der ETH. Das haben wir in Bern einfach nicht. Das istkeine Schande, aber es ist eben so. Umso mehr stört es mich, wenn der Verwaltungsrat der Insel-Gruppe oder die Kantonsregierung davon reden, dass Bern zu einem international führenden Standort werden soll. Weltweit sind wir heute Nummer 218. 

Was wäre denn die Alternative? 

Eine Forschung, die weniger glamourös, dafür näher an den tatsächlichen Bedürfnissen der Patienten wäre. Zum Beispiel zur Behandlung von Patienten mit Mehrfachdiagnosen, verschiedenen Krankheitsbildern, die unterschiedlich behandelt werden müssten. Oder zur besseren Integration von Spital, Spitex und Heimpflege, um eine gute Grundversorgung sicherzustellen. Damit gewinnt man zwar keinen Nobelpreis, aber es wäre sinnvoll und finanziell machbar. 

Damit wären aber die Tarif- und Finanzierungsfragen auch noch nicht gelöst.

Es würde zumindest eine erste Entlastung schaffen. Es braucht aber die Anpassungen auf Systemebene. Auch hier müsste man sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren. 

Das heisst? 

Gesundheitspolitik ist nicht nur Spitalbaupolitik. Die Bevölkerung braucht First Responders, sie braucht Betreuung zu Hause, sie braucht Hausarzt- und Kinderarztpraxen und regionale Gesundheitszentren. Spitäler bräuchte es vor allem für planbare, schwierige Eingriffe. Wir könnten die ganze Versorgung deutlich effizienter gestalten, wenn wir nicht an jedem Kleinstspital festhalten würden. 

Sie sprechen die Ökonomisierung der Spitäler an: Nicht finanzierbare Leistungen sollen zentralisiert und nicht mehr überall angeboten werden. Aber längst nicht alles, was für die Grundversorgung nötig wäre, lässt sich so einfach finanzieren.

Dann müssen wir diese Leistungen eben finanzierbar machen, indem wir etwa die Tarife erhöhen. Die sind seit Jahrzehnten nicht kostendeckend, auch weil es so viele Spitäler gibt. So ein Spital hat enorme Fixkosten, ohne eine garantierte Auslastung zu haben. Nehmen wir an, es gäbe weniger Spitäler mit höheren Tarifen. Es wäre deutlich attraktiver, Eingriffe ambulant vorzunehmen. Was nicht sinnvoll und finanzierbar wäre, würde eben nicht gemacht. Und das rare Personal wäre effizient am richtigen Ort im Einsatz. Unter dem Strich wäre das sogar günstiger als unser heutiges System.

Und doch bedeuten Tarif­erhöhungen im ersten Moment vor allem Mehrkosten. Woher soll das Geld dafür kommen? 

Dort, wo es schon heute herkommt. Vom Bund und den Kantonen. 

Also zahlt trotz aller Ökonomisierung der Staat – und letzten Endes die Bevölkerung. 

Aber die Last wird sozialer verteilt. Letztlich ist auch die obligatorische Krankenversicherung von einer Steuer nicht weit entfernt. Es ist fair, wenn ihre Last nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verteilt wird. Vor allem, da der Anteil des Bundes an den Gesundheitskosten nur 7.5 Prozent beträgt.

Die Kantone zahlen deutlich mehr. 

Und das führt zu einem negativen Kompetenzkonflikt. Niemand fühlt sich verantwortlich. Es braucht jemanden, der vorne hinsteht und sagt, wo es lang gehen soll. Der Bund hätte dafür schon jetzt ein ganzes Arsenal an Instrumenten, die er ungenutzt lässt. Ich behaupte: Wenn er mehr bezahlen müsste, würde er diese eher nutzen. Im Sinne einer besseren Qualität und Grundversorgung. Diese Qualität kostet nicht unbedingt mehr – im Gegenteil. 

Qualitätssicherung dagegen schon. Schon jetzt klagt das Medizinpersonal über die zunehmenden Kontrollen und Bürokratisierung, die immer mehr Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen. 

Nein, so kompliziert ist das nicht. Sie muss nur sicherstellen, dass ein Minimum an Qualität besteht. Das Personal dafür ist da, gut ausgebildet und –  noch – motiviert. Wenn ersichtlich ist, dass es eben keine reine Formübung ist, sondern mit diesen Daten tatsächlich etwas Sinnvolles gemacht wird, dann ziehen alle mit. 

Was, wenn diese Vorschläge nicht umgesetzt werden? 

Dann wird es von Jahr zu Jahr schwieriger, ohne Folgeschäden aus dem Schlamassel wieder herauszukommen. Es ist wie bei der Insel auch: Kurzfristig leidet die Versorgung nicht. Die Insel wird auch in den nächsten Monaten noch weiter funktionieren, auch unter diesen Bedingungen. Die einzige Frage ist: Wie lange noch? Die Versorgung an sich ist nicht akut gefährdet. Aber ihre Zukunft. 

Was ist los am Berner Inselspital?
Die Insel-Gruppe schreibt 2023 ein Defizit von 112,7 Millionen Franken. Anders als andere Spitäler behandelte die Insel-Gruppe im letzten Jahr zum ersten Mal seit langem auch weniger Patienten. Das Minus gehe aber auf Investitionen wie die Inbetriebnahme des neuen Anna-Seiler-Hauses oder die Schliessungen der Spitäler Münsingen und Tiefenau zurück, schreibt die Gruppe. Die Tarifsituation bleibe zwar «sehr angespannt», doch man sei mit den Investitionen gut aufgestellt und blicke optimistisch in die Zukunft.

Das Personal scheint die Situation weniger rosig zu sehen: Die Rede ist von strategischen Fehlentscheidungen, von schlechter Kommunikation oder einer Mobbingkultur. Ende März wandten sich 42 Klinikdirektoren und Chefärztinnen in einem Brief an die Direktion. Sie würden nicht ausreichend eingebunden und sorgten sich um die Zukunft der universitären Medizin am Standort Bern, heisst es darin. Im Nachgang kam es zu weiterer Kritik von ehemaligen Spitzenleuten sowie zu Rücktrittsforderungen gegenüber dem Direktionspräsidenten Uwe E. Jocham und dem Verwaltungsratspräsidenten Bernhard Pulver.

Zu dieser Kritik hat sich die Insel-Gruppe zurückhaltend geäussert. Inhaltlich verweist sie auf die vielen Reformen der letzten Jahre, die oft einschneidende Entscheidungen bedingt hätten. Diese Massnahmen mit persönlichen Ansichten der Führungsetage zu verknüpfen, sei aber nicht sachgerecht und irritierend, so die Aussage. Ein grundlegendes Mobbing-Problem habe man bisher nicht verzeichnet. (hag)


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