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Für «Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit» trotz allem

Zum Europatag sollen Einheit und Vielfalt gefeiert werden – trotz des Kriegs in der Ukraine. Ein Berner ­Konzert will beides verbinden.

| Léonie Hagen | Gesellschaft
Werner Schmitt. Foto: Pia Neuenschwander
Werner Schmitt. Foto: Pia Neuenschwander

Am kommenden Donnerstag, 9. Mai, feiert sich Europa selbst. Dann ist Europatag; zwischen ständigen Neuverhandlungen, Rechtsruck und Krieg werden Einigkeit und Brüderlichkeit besungen. Auch in Bern – mit einer besonderen Idee: Zum 9. Mai sollen ukrainische Geflüchtete aus der ganzen Schweiz in den Berner Museumsgarten kommen, um Beethovens «Ode an die Freude» zu singen. 

Der Anlass geht auf Werner Schmitt, den Initiator des Yehudi Menuhin Forums Bern und langjährigen Direktor des Berner Konservatoriums, zurück. Schmitt pflegt selbst eine enge Verbindung zur Ukraine. Vor 24 Jahren gründete er den Verein «Legato Bern–Odessa», der Kunstschaffende aus der Schweiz und der Ukraine verbindet. Schmitt reiste selbst 31-mal nach Odessa – bis der Krieg begann. 

Nun will Schmitt ein Zeichen setzen, und zwar in kürzester Zeit. Vor knapp einem Monat sei die Idee erst aufgekommen, erzählt er, als Jorge Chaminé vom «Centre Européen de Musique» in Paris vorschlug, zum 9. Mai in ganz Europa die Hymne aus der 9. Symphonie von Beethoven aufzuführen, da diese Symphonie vor genau 200 Jahren uraufgeführt wurde. Schmitt ist begeistert.

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Tatjana Yakovchuk. Foto: zvg

Ein Chor aus 150 Unbekannten

«Ich wusste, dass es überall in der Schweiz kleine Chöre mit Geflüchteten aus der Ukraine gibt», erzählt er. Acht davon hat er nun über soziale Netzwerke und den ukrainischen Verein in der Schweiz zusammengebracht, 150 Personen insgesamt. Sie reisen am Mittwoch aus Genf, Basel, Luzern, Lausanne, Zürich und Bern selbst an. Den Museumsgarten habe er bewusst ausgewählt, so Schmitt, «als Ort der Einheit, an dem auch die verschiedenen Institutionen zusammenkommen und gemeinsam Neues schaffen».

In ebenso kurzer Zeit hat Schmitt ein Patronat zusammengetrommelt. Der Anlass wird sowohl von der Stadt Bern als auch von der ukrainischen Botschaft und der europäischen Delegation in der Schweiz symbolisch unterstützt. Das Projekt habe einen hohen symbolischen Stellenwert, sagt etwa EU-Botschafter Petros Mavromichalis. Am 9. Mai gedenke man der Schuman-Erklärung von 1950 und dem Beginn der europäischen Integration, um «die Völker Europas miteinander zu versöhnen». Nun gelte es, diese «Einheit in der Vielfalt» wieder zu leben. 

Diesem Motto scheint auch das Konzert zu folgen. Die acht Chöre kennen sich bisher nicht; auch gemeinsame Proben gibt es keine. Alles soll an diesem einen Tag zusammenkommen. Jeder Chor trägt einige Minuten allein vor, anschliessend singen die Chöre gemeinsam die Europahymne. «Es wird eine neue Erfahrung, aber es wird gut», sagt Dirigentin Tatjana Yakovchuk, welche die Zusammenkunft leiten wird. Sie freue sich auf die Herausforderung.

Mehr Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten

Yakovchuk stammt aus Odessa und ist im November mit ihrer Tochter in die Schweiz geflüchtet. Die Ankunft in der Schweiz sei für sie ein grosses Geschenk gewesen, erzählt sie: «Es geht uns besser hier.» Ihre 16-jährige Tochter hat vor Kurzem die Aufnahmeprüfung an die Hochschule der Künste Bern bestanden. Auch Yakovchuk selbst ist breit eingebunden, singt etwa im Bolliger Chor «Cantate». Sie schätze die Hilfsbereitschaft und Rücksicht ihres Umfelds in der Schweiz, so Yakovchuk: «Es wärmt die Seele.»

Gleichzeitig scheint die Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine nachzulassen – oder mit dem Konflikt zumindest in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken. Kürzlich zeigten Recherchen des Schweizer Fernsehens, dass auch der Schutzstatus S längst nicht mehr so schnell und unbürokratisch erhältlich ist wie noch vor einem Jahr. 

Yakovchuk hat dagegen Verständnis für die Überlastung der Behörden. Der Krieg zehre an allen, sagt sie. Auch an den Ukrainerinnen, welche nun in der Schweiz versuchten, Deutsch zu lernen und sich zu integrieren. «Wir müssen nach vorne sehen und weitermachen», so Yakovchuk. Auch dafür soll das Konzert am Mittwoch stehen: für die Hoffnung, den Mut, die Solidarität mit und unter den ukrainischen Geflüchteten. 

Der EU-Botschafter Petros Mavromichalis sagt, der Anlass sei ein starkes Symbol dafür, dass die Ukraine zur europäischen Familie gehöre und Teil des europäischen Friedensprojekts sei. Eines Friedensprojekts, das längst mehr als einen Riss erlebt hat. Doch Werner Schmitt will den Glauben daran nicht aufgeben. «Ich habe selbst jahrzehntelang in Odessa erlebt, wie Russen und Ukrainer friedlich zusammenleben konnten», sagt er. «Wie weit das nach dem Krieg noch möglich ist, kann man nur hoffen.»

Es brauche Kraft, weiterhin zuversichtlich zu bleiben, sagt Yakovchuk. Daran zu glauben, dass alle Menschen Brüder werden, wie es im Text zur «Ode an die Freude» heisst. Eine Alternative dazu gebe es nicht: «Das ist unsere Hoffnung.»

Zum Konzert:

Das Konzert findet am 9. Mai um 17.00 Uhr im Museumsgarten, bei schlechtem Wetter im Yehudi Menuhin Forum statt, Sitzgelegenheiten müssen selbst mitgebracht werden. Die Kosten von 15 000 Franken werden über den Verein «Legato Bern–Odessa» sichergestellt. Dieser dankt für Kollekte.


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