Ein Kind wird in der ganzen Wohnung gerufen, dann gesucht, beinahe vermisst gemeldet. Es sitzt auf dem Klo und liest. So lange bis die Klobrille so tief in seinen Po einschneidet, dass der noch eine Stunde danach juckt. Es hat nichts gehört. Dieses Kind war ich: eine Leserin, bevor ich etwas anderes war, in Geschichten, in Worten zu Hause; rückwärts die Kanalisation hinunter und auf einer nebligen Insel, einem verwunschen Schloss, in einer schillernden Wolke wieder aufgetaucht.
Alles war gut, wenn ich gelesen habe – oder zumindest weg. Weltflucht. Dass ich schreibe, ist die Folge eines emanzipatorischen Prozesses, mich aus den Köpfen anderer in mich selbst zu begeben, zu spüren, was bei mir los ist.
In der Zeit, als ich zu schreiben begann, habe ich oft nur aus einer Art Pflichtgefühl gelesen. Es gab in mir eine sehr genaue Vorstellung davon, wie eine Schreibende zu sein und was sie zu lesen hat und vor allem, dass sie zu lesen hat. An den Schreibschulen wurden meine geliebten Autor*innen von Mitstudierenden zur Trivialliteratur erklärt. Und mit Barthes und Handke und Bernhard konnte ich leider wenig anfangen, sorry boys, ich habe es versucht.
Wenn ich an etwas schreibe, lese ich auch heute noch kaum. Ich bin leicht beeinflussbar und ertappe mich dann, dass ich Sätze formuliere, die nicht mir gehören. Es ist eine Frage der Balance: In sich verankert zu bleiben und sich mit anderen zu verbinden. Das ist eine hohe Kunst – nicht nur beim Lesen.
Als ich an Silvester an einem Feuer über das letzte Jahr nachgedacht habe – eine Achterbahnfahrt für die ganze Welt –, habe ich gemerkt, dass ich mich neu verliebt habe in das Eintauchen in die Worte anderer, in die Welten ausserhalb meiner eigenen. Noch nie habe ich so viel gelesen wie im letzten Sommer, in dem ich in Berlin auf einem Teppich lag (davon in einer anderen Kolumne).
Weil ich mich nicht nur ins Lesen verliebt habe, werde ich dieses Jahr viele Stunden in Zügen und U-Bahnen sitzen. Mehr als ich E-Mails zu beantworten habe. Ich nehme mir deshalb vor, noch mehr zu lesen, das Lesen neu zu üben, mich in die Sätze anderer zu stürzen, aber mit einem Seil an meinem Herzen festgebunden. Wie eine Bungeespringerin. Nicht als Flucht aus der Welt, sondern als Bindeglied zu ihr.
Saskia Winkelmann ist freie Autorin und DJ. Ihre Texte wurden in Literaturzeitschriften, Zeitungen,
in Zines, auf Bühnen und auf einem Plattencover veröffentlicht. Im April 2023 erschien ihr erster Roman, «Höhenangst» im Verlag Die Brotsuppe. Sie lebt in Bern. Sie empfiehlt als Neujahrslektüre «On connection» von Kae Tempest.