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«Das Feld ist diverser und vielfältiger geworden»

Tabea Steiner legte vor 20 Jahren mit einer Lesereihe den Grundstein fürs Literaturfestival Literaare in Thun. Der «Anzeiger Region Bern» sprach mit der vielbeschäftigten Literatur­veranstalterin und Autorin über die diesjährige Programmierung und aktuelle Literaturtrends.

| Bettina Gugger | Kultur
Tabea Steiner
Tabea Steiner lernt am Festival auch immer neue Autorinnen und Autoren kennen. Foto: Ayse Yavas

«Anzeiger Region Bern»: Tabea Steiner, das Literaare entstand aus einer Lesereihe, die Sie vor 20 Jahren in Thun veranstaltet haben. Wie hat sich das Literaturfestival seither entwickelt?

Tabea Steiner: Beim ersten Festival standen vier Lesungen auf dem Programm, wobei eine davon ausfiel. Im Laufe der Jahre wuchs das Festival beständig. Mittlerweile haben wir eine Grösse erreicht, mit der wir uns wohl fühlen. Wir streben kein weiteres Wachstum an, denn wir wollen uns nicht durch Parallelveranstaltungen selbst konkurrieren. Mit der Grösse des Festivals wuchs auch das Team, das mittlerweile sehr eingespielt ist. Das erste Festival organisierte ich noch alleine. Ein paar Freunde kochten Spaghetti …

 

Wie viele Bücher haben Sie für das diesjährige Festival gelesen?

Ich lese übers Jahr hinweg sehr viel, immer auch im Hinblick aufs Festival. Bei anderen Festivals reichen Verlage Texte ein und die Programmkommission liest alle Texte gleichzeitig. Bei uns bringt jeder seinen eigenen Lesehorizont mit und bringt seine Vorschläge ein. Das macht das Festival auch für uns selbst interessant. Am Festival lerne ich jeweils auch neue Autorinnen und Autoren kennen.

 

Was waren die Auswahlkriterien für dieses Festival?

In der ersten Sitzung im Sommer fallen jeweils bereits erste Namen, woran wir uns bei der weiteren Programmierung ein bisschen orientieren. Dabei wollen wir eine Bandbreite abdecken. Uns interessiert, welche Themen auf welche Art literarisch bearbeitet werden.

Die Auswahl bleibt aber subjektiv und bildet uns als Programmkommission ab. Ich habe Arnold Stadler eingebracht. Er führt die Krise der Männlichkeit aufs Schönste an sich selbst vor. 

 

Bildet Arnold Stadler einen Gegenpol zu den jungen Autorinnen und Autoren, deren Texte sich noch viel mehr um die eigentliche Identitätsfindung drehen?

Der Klappentext kündigt die Geschichte eines Autors an, der eine Schloss­lesung hält. Dabei wird er für sein Mansplaining gerügt. Die Hörerschaft würde ohnehin lieber Greta Thunberg zuhören. Nachdem ich den Klappentext gelesen hatte, gab ich dem Buch 20 Seiten. Der Text liess mich dann jedoch nicht mehr los. Wie Stadler die Verunsicherung eines älteren weissen Herrn aufgrund des Paradigmenwechsels, für den es höchste Eisenbahn war, verarbeitet, finde ich grossartig. Mich begeistert «Irgendwo. Aber am Meer», weil sich Stadler, der ja immerhin den Büchner-Preis gewonnen hat, in den Diskurs reinstürzt und sich dadurch auch selbst entblösst. 

 

Die Grundstimmung der ausgewählten Texte ist melancholisch. Gibt es auch Humorvolles zu entdecken?

Das explizit Lustige ist dieses Mal nicht vertreten. Ich würde thematisch aber eher von Trost sprechen. Den finde ich in vielen Texten, beispielsweise auch in «Unser Deutschlandmärchen» von Dinçer Güçyeter, das auch viele lustige Seiten hat. 

 

Hat sich die Coronakrise in der aktuellen Literatur niedergeschlagen? 

Die Befürchtung, dass alle Autorinnen und Autoren über Corona schreiben werden, hat sich nicht bewahrheitet. Aber ich glaube, dass sich die Krise im Rückgriff aufs Persönliche und die eigene Lebensgeschichte spiegelt. Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Annie Ernaux 2022 hat den Trend zur Autofiktion sicherlich auch unterstützt. Kerstin Preiwuss’ Roman «Heute ist mitten in der Nacht» handelt von abstrakten Ängsten. Er war überhaupt nicht auf die Coronakrise ausgerichtet, sie spielte beim Schreiben jedoch mit rein. 

 

In den letzten Jahren strömten sehr viele junge Autorinnen und Autoren auf den Markt. Was heisst das für den Literatur­betrieb, wenn Jungautorinnen und Jungautoren mit ihren Erstlingen das Feld dominieren?

In vielen Debüts wird gegendert. Ältere Autorinnen und Autoren, die ein anderes Standing haben, schreiben wiederum in grossen Zeitungen über die Ir­relevanz des Genderns. Dieser trans­generationale Diskurs bildet das Spannungsfeld ab. 

Das Angebot wird grösser, es gibt mehr Festivals und auch mehr Leseorte, was eine Bereicherung und keine Bedrohung ist. Das Feld ist diverser und vielfältiger geworden, man arbeitet demokratisch zusammen. Gleichzeitig gibt es natürlich einzelne Autorinnen und Autoren, die konstant sehr präsent sind. 

Ich habe das Gefühl, dass die Gruppe, die vom Kuchen essen will, überproportional zum Kuchen gewachsen ist. Den Autorinnen und Autoren ist klar, dass es fast unmöglich ist, nur vom Bücherverkauf zu leben. 

 

Was zeichnet die diesjährige Debüt-Gruppe aus?

Bei der Programmierung dieser Gruppe war ich nicht dabei. Die Auswahl soll jedoch einen Querschnitt der jungen Literatur abbilden. Julia Rüegger präsentiert Lyrik, Darja Keller Erzählungen, Eva Reisinger und Lion Christ stellen ihre Romane vor. 

 

Worauf freuen Sie sich dieses Jahr am meisten?

Die Frage nach Highlights macht immer eine Hierarchisierung. Ich könnte als Lehrerin auch kein Lieblingskind bestimmen. Ich freue mich zum Beispiel auf die Lesung von Saskia Winkelmann. Sie wird mit der Musikerin Catia Lafranchi und der Schauspie­lerin ­Marie Popall auftreten. Die Abschluss­lesung ist jeweils auch etwas Besonders, dieses Jahr bestreitet sie Bov Bjerg, in dessen Roman Tränen zur Währung werden. 

 

 

Rathaus Thun, 8. bis 10. März. Programm unter: literaare.ch


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